Vor 150 Jahren starb Hans Christian Lumbye, Kopenhagens Walzerkönig
Ein Stück von geradezu genialischer Beschwipstheit machte ihn zur Legende, doch war Hans Christian Lumbye schon vor 1845, als er den Champagne Galop schrieb, eine prominente Gestalt. Zunächst im heimatlichen Kopenhagen, wo er das 1843 gegründete Tivoli-Orchester leitete. Dessen Instrumentalisten spielten auf einem derart hohen Niveau, dass sie schon bald im Orchester des Musikvereins und in der Königlichen Kapelle die meisten Stühle besetzten. Tivolis Truppe existiert übrigens nach wie vor, im Winter reist sie unter dem Namen Sjællands Symfoniorkester durchs Land.
Lumbye erlernte seit dem elften Lebensjahr in einem fünischen Dragonerregiment die Trompete. Er ist zwar nicht in Odense geboren, aber eine insulare Ikone wie Hans Christian Andersen, Carl Nielsen und die Maler-Kolonie um Fritz Syberg. Von Fünen aus eroberte er Dänemark, dann führten ihn Konzertreisen nach Paris, Sankt Petersburg, Leipzig, Berlin und Wien. Bis zum definitiven Ritterschlag dauerte es aber noch ein Weilchen: Im Wiener Neujahrskonzert 2010 erklang der Champagne Galop, entkorkt vom 85jährigen Dirigenten Georges Prêtre. Ein Sakrileg, ein Frevel am Hausgott Strauß? Es schien ungefähr so, als würde Figlmüller neben seinem Schnitzel auch Rød pølse anbieten oder das Café Sacher klebrigen Kopenhagener Kranzkuchen. Nur weitaus appetitlicher.
Dabei benimmt sich Lumbye in vielen Werken eindeutig weanerisch; genauso elegant und charmant im Auftreten, verschmäht er weder holprige Gassenhauer noch rustikales Wirtshausgedudel. Das Kopenhagener Gastspiel eines steiermärkischen Orchesters hatte ihn 1839 auf die wegweisende Spur gesetzt; nicht nur die kompositorischen Formeln, auch einige Sujets stammen direkt von Lanner und Gungl, etwa der schnaufende Københavns Jernbanedamp Galop (Eisenbahndampf-Galopp), mit dem man 1847 die Bahnstrecke Kopenhagen-Roskilde einweihte. Und doch übertrifft Lumbye seine Vorbilder nicht selten an Raffinement und Erfindungsreichtum. Seine Walzer, Polkas und Polonaisen, Mazurken, Märsche und Galoppaden sind von einer originellen, bezwingenden Melodik, die sich mal sentimental gibt, mal schmissig, mal träumerisch, mal turbulent.
Eine eher zwiespältige Beziehung verband Lumbye mit Berlin. Rauschende Erfolge im Etablissement Kroll fesselten ihn viele Monate an die preußische Residenz. Walzer wie Mein Lebewohl an Berlin künden von einer Liebe, die schließlich durch zwei Kriege zerstört werden sollte. Der erste, mit einem dänischen Sieg endende Waffengang inspirierte Lumbye 1851 zu der Fantasie Slaget ved Idsted (Die Schlacht bei Idsted), Tschaikowskys Ouvertüre 1812 an Dramatik übertreffend. Sein gut 500 Werke umfassender Katalog weist überhaupt mehrere ambitionierte Tondichtungen auf: Kunstner-Drømme (Künstlertraum), En Sommernat paa Møens Klint (Eine Sommernacht auf Möns Klint) und diverse Szenen zu August Bournonvilles Balletten.
Lumbyes schicksalhafte Bindung an Berlin war jedoch in erster Linie amourösen Ursprungs. Der verheiratete fünffache Vater hatte sein Herz an die Sängerin Amélie Hartmann verloren, über zehn Jahre lang seine Muse und wohl auch mehr. Die Widmungsträgerin des schwärmerischen Amélie Vals ist daher leicht zu identifizieren; bei hundert anderen Werktiteln mit weiblichen Namen tappt man im Dunkeln… Manch ein Zeitgenosse fand das verdächtig, zumal Tanzmusik in Kopenhagens vornehmen Kreisen lange Zeit als inferior galt. Eine dänische Biografie Hans Christian Lumbyes ließ bis 1910 auf sich warten. Immerhin – dem großen Niels W. Gade wurde diese Ehre erst 1917 zuteil.
Volker Tarnow
Erschienen im Klassik-Herbst 2024