Nach 120 Jahren beantwortet Eberhard Kloke „The Unanswered Question“ von Charles Ives
Seit über zehn Jahren widmet sich der Dirigent Eberhard Kloke, einst Generalmusikdirektor in Ulm und Freiburg, Bochum und Nürnberg, nur noch seinen Kompositionen, Bearbeitungen und Transkriptionen. Fürs Musikfest Berlin hat er Lieder von Ives und Mahler bearbeitet und The Answered Question komponiert. Aufgeführt werden die Werke von Anna Prohaska und dem Mahler Chamber Orchestra unter Leitung von Antonello Manacorda.
Herr Kloke, haben Sie die Antwort auf Ives’ „Unanswered Question“ gefunden?
Ich versuche die Antwort zu finden, indem ich die Frage anders stelle. Das Stück begleitet mich schon mein Leben lang – weil ich es für einen genialen Entwurf halte. Das geistert durch zahlreiche Programme, die ich dirigiert habe.
Wie lautet „die unbeantwortete Frage“?
Es ist vor allem eine musikalische Frage, die von der Trompete gestellt und immer dissonanter von den Holzbläsern beantwortet wird, und darunter liegt ein tonaler Streicherteppich, der immer wiederholt wird. Die Frage wird immer gleich gestellt, und die Antwort wird immer ungewisser.
Ist „The Answered Question“ eine eigene Komposition?
Ja, aus Ives-Material. Komponieren heißt ja im ursprünglichen Sinne nichts anderes als Zusammensetzen. Ich setze das Material jetzt anders und neu zusammen, sowohl die Frage als auch die Antwort, und komme dann zu einem interessanten Schluss.
Der Werkkatalog auf Ihrer Homepage ist überschrieben mit „Kompositionen, Bearbeitungen, Transkriptionen“. Ist das für Sie alles gleichberechtigt?
Ja, die Transkriptionen sind immer Veränderungen der Originalgestalt, Weiterentwicklungen – es sind komponierte Interpretationen. Sie haben immer eine ganz bestimmte Intention dramaturgischer oder aufführungspraktischer Art: zum Beispiel vom Klavier aufs Orchester oder vom Orchester aufs Kammerorchester, mal mit Gesang, mal ohne. Ich versuche das, was mir wichtig war und was ich mir erarbeitet habe in meinem 40jährigen Leben als Dirigent, neu zu durchdenken und neue Lösungen zu finden.
Bei einer Komposition erschaffen Sie etwas von Null, das ist Ihr Werk. Aber eine Bearbeitung bleibt doch das Werk des Originalkomponisten.
Nein, die Bearbeitung schafft etwas Neues, was man manchmal sogar als Eigenkomposition bezeichnen kann. Wenn man etwas vom großen Orchester auf ein Klavier transkribiert oder wie jetzt bei den Ives-Liedern vom Klavier auf ein kleines Orchester, da entsteht etwas vollkommen Neues.
Nun klauen Sie, böse gesagt, dem armen Alban Berg auch seinen Werktitel, indem Sie die „Sieben frühen Lieder“ Gustav Mahler unterschieben.
Ich habe sieben Lieder aus dem Frühwerk von Mahler ausgewählt und nenne sie „Sieben frühe Lieder“, weil jeder denkt: Das ist doch Alban Berg! Aber das ist ja ein Terminus technicus, den Berg nicht besetzen kann. In den ersten vier Sinfonien von Mahler steckt viel Material aus seinen frühen Liedern, die Verbindung bildet die Wunderhornthematik. Die Instrumentation der Lieder reichere ich nun umgekehrt um Themen, Techniken und Allusionen aus den Sinfonien an, und um das zu zeigen, hab ich den Titel entlehnt.
War Ives ein Großer?
Ein ganz Großer! Vielleicht der erste und aus heutiger Sicht auch der letzte Große in Amerika. Er war der erste genuin amerikanische Komponist, der nie in Europa war, der aber wusste, was hier geschrieben worden ist. Er hat europäische und amerikanische Musik, Volksmusik und populäre Musik aufgegriffen. Mich faszinieren die Ideen, die dahinterstehen. Nicht nur die musikalischen, Ives schöpfte auch aus einem Riesenschatz von Philosophie. Er war ja Versicherungsunternehmer, als solcher quasi ein Gegenbild zu Kafka. Und was er in dieser Zeit geschrieben hat, ist ganz erstaunlich. Schönberg hat Brahms den Progressiven genannt. Aber man kann genauso gut sagen: Ives the progressive. Ich finde ihn schon vergleichbar mit Schönberg.
Das Gespräch führte Arnt Cobbers.
Erschienen im Klassik-Herbst 2024