Musik aus dem Nichts

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Roland Wilson hat die erste deutschsprachige Oper rekonstruiert

Am 13. April 1627 wurde bei einer prächtigen Hochzeit am Hofe des sächsischen Kurfürsten in Torgau die erste deutschsprachige Oper aufgeführt: Dafne. Doch die Partitur des Hofkapellmeisters Heinrich Schütz ist verschollen, die Dafne wurde zum Mythos. Nun hat Roland Wilson, der seit Langem in Deutschland lebende Brite, die „Phantomoper“ rekonstruiert und mit seinen Ensembles Musica fiata und La Capella Ducale auf CD eingespielt.

Foto: Eberhard Zummach

Herr Wilson, wie rekonstruiert man eine Oper, von der keine einzige Note Musik erhalten ist?

Das war wie Sudoku für Fortgeschrittene. (lacht) Ich habe am Anfang von Corona viel Zeit mit Sudokus verschwendet, bis ich auf die Idee kam, etwas Vernünftiges zu tun. Und es gibt Sudokus ganz ohne Zahl, da sind nur bestimmte Regeln vorgegeben. Sich in den Kopf eines Komponisten hineinzuversetzen, hat auch etwas mit logischem Denken zu tun. Wie wäre er herangegangen? Vor ungefähr zehn Jahren hat die Musikwissenschaftlerin Bettina Varwig über die Echos auf die Dafne geschrieben. Die Oper selbst ist nicht erhalten, aber man findet ihr Echo in anderen Werken. Diese Idee habe ich aufgegriffen. Ich habe seit 40 Jahren die Gesamtausgabe von Schütz zu Hause, und die habe ich nun nach Stücken abgesucht, die in Frage kommen könnten. Das Libretto von Martin Opitz ist ja vollständig erhalten, das habe ich als erstes studiert. Da erscheint Apollo als der Mann mit den güldenen Locken. Es gibt von Schütz ein Stück Güldne Haare, und wenn man das auf den Text der Dafne legt, passt es perfekt. Das ist kein Zufall, glaube ich.

Sehr wichtig ist auch die Szene, in der Dafne an ihren Vater appelliert, sie zu retten. Auf diesen Text passt vom Rhythmus und vom Affekt her perfekt das Klagelied, das Schütz 18 Monate vorher auf den Tod seiner Frau geschrieben hat. Wahrscheinlich hat Schütz für die Dafne nicht genau dieses Stück genommen, aber er hat vermutlich etwas sehr ähnliches geschrieben.

Opitz’ Libretto ist im Wesentlichen eine getreue Übersetzung des italienischen Librettos von Ottavio Rinuccini, das bereits von Marco de Gagliano und von Jacopo Peri vertont worden war. Opitz hat jeden Akt verlängert durch ein langes Strophenlied, und dafür Musik zu finden, was das einfachste. Es gibt von Schütz Musik auf Texte von Opitz, die denselben Rhythmus haben und wunderbar in die Dafne passen.

Die schwierigste Aufgabe waren die Rezitative. Schütz hatte gar keine Erfahrung mit Rezitativen, aber er kannte sie aus Italien, wo er studiert hatte. Man vermutet, dass Schütz Musik von Gagliano übernommen und dem deutschen Text angepasst hat. So habe ich das auch gemacht. Das war nicht einfach, weil Deutsch mehr Silben hat – und Opitz’ Deutsch erst recht. Muss man ja auch oft mit dem richtigen Akkord auf dem richtigen Wort landen, damit es inhaltlich stimmt. Da habe ich manchmal ein oder zwei Takte einschieben müssen, damit ich diese klare Sprachbehandlung, die Schütz sehr wichtig war, beibehalten konnte.

In der Dafne steckte und steckt also auch Musik von anderen Komponisten?

Etwa die Hälfte der Musik stammt von Schütz, 35 Prozent von Gagliano, der Rest von anderen Komponisten. Das sind zum Beispiel Villanellen, lustige kleine Lieder seines jung verstorbenen Schülers Johann Nauwach. Die passen genau auf die Szenen mit Venus und Amor, und man weiß, dass Nauwach bei der Aufführung mitgespielt hat. Dass Komponisten Werke von Kollegen eingebaut haben, war nichts Ungewöhnliches. In Monteverdis L’incoronazione di Poppea stammt wahrscheinlich nur die Hälfte der Musik von Monteverdi, das berühmteste Stück der Oper, das Schlussduett Pur ti miro, ist gar nicht von ihm. Das war ganz normal damals, die anderen Komponisten wurden nicht genannt.

Sie erheben also nicht den Anspruch, die „originale“ Dafne rekonstruiert zu haben?

Überhaupt nicht. Das Publikum hört Musik von Schütz – und anderen –, die sehr gut ist und die es sonst nicht hören würde. Entscheidend ist, ob es die Zuhörer anspricht und bewegt. Und das tut es – wir haben inzwischen schon mehrere Aufführungen gemacht. Die Kritiker bescheinigen uns auch, dass es wie aus einem Guss wirkt. 

Dabei weiß man ja nicht einmal sicher, ob 1627 in Torgau nicht nur ein Theaterstück mit etwas Musik aufgeführt worden ist.

Ich halte von dieser Theorie nichts. Entscheidend für mich ist: Das Stück wurde nicht von Schauspielern aufgeführt, sondern von der Hofkantorei. Warum hätte man Sänger nehmen sollen, wenn es nur ein Theaterstück war? Außerdem heißt es ein paar Jahre später im Druck einer Gagliarde von Carlo Farina explizit: Diese Gagliarde wurde gesungen und gespielt bei der Dafne-Oper in Torgau.

Warum wurde das Werk nur ein Mal aufgeführt?

Wahrscheinlich war es keine tolle Aufführung mit den Knaben aus der Hofkantorei. Opitz hat sich später ziemlich abfällig geäußert, das Werk sei nicht viel wert gewesen. Das ganze Format war ihm wohl fremd.

In welcher Besetzung spielen Sie die Dafne?

Wie haben sieben Sänger. Dazu ein Quintett mit vier Streichern und Dulzian auf der einen Seite und zwei Zinken und drei Posaunen auf der anderen Seite. Und das Continuo mit zwei Lauten/Chitarrone, Harfe und Orgel/Cembalo.

Warum haben Sie zuerst die CD-Aufnahme gemacht und spielen die Dafne jetzt erst im Konzert?

Das hing mit Corona zusammen. Eigentlich ist es schöner, Werke zunächst im Konzert zu spielen und dann erst aufzunehmen. Aber es ist schwierig geworden, Konzerte zu bekommen für unbekannte Programme. Wenn die Veranstalter ein Programm zuerst hören können, ist es einfacher.

Sie arbeiten fast nur mit dem Vokalensemble La Capella Ducale und dem Instrumentalensemble Musica fiata, das sie seit der Gründung 1976 leiten. Auf der Homepage steht als Profil schlicht: „Musik des 17. Jahrhunderts“. Füllt das ein Musikerleben aus?

Wie viele Jahrhunderte Musik spielt ein modernes Orchester? Ein bisschen mehr als zwei! Wir machen auch Projekte mit Lasso und Bach, spielen also Musik von 1550 bis ins 18. Jahrhundert. Man muss bei der Beschäftigung mit dieser Musik erfindungsreich sein. Es gibt viele Quellen, die beschreiben, wie man etwas spielen muss. Und dann muss man versuchen, die Theorie mit der Praxis in Einklang zu bringen. Ich habe nie das Gefühl, dass ich etwas interpretiere. Ich versuche mich immer in den Komponisten hineinzuversetzen und herauszufinden, was er wollte. Man liest und forscht viel und hat immer wieder Aha-Erlebnisse.

Sie haben ja auch schon Fragmente von Biber, Buxtehude, Scheidt und Schütz vollendet.

Aus dem 17. Jahrhundert gibt es einige Stücke, die nicht vollständig erhalten sind, und gerade das sind oft wahnsinnig interessante Stücke. Aber ich muss sagen: Wenn zumindest einige Stimmen erhalten sind, ist es leichter.

Das Interview führte Arnt Cobbers.

Erschienen im Klassik-Herbst 2022

Heinrich Schütz: Dafne

Musikalische Rekonstruktion: Roland Wilson

La Capella Ducale, Musica fiata, Roland Wilson

erschienen beim Label cpo