Eine neue Bach-Passion?

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Alexander Grychtolik hat Johann Sebastian Bachs Passionsoratorium BWV Anh.169 rekonstruiert und vervollständigt

Foto: Hartmut Hientzsch

„Fünf Paßionen, worunter eine zweychörige befindlich ist“, habe Johann Sebastian Bach komponiert, vermeldet 1754 der Nekrolog in Mizlers Musikalischer Bibliothek. Doch wir kennen nur drei: die Johannes-, die Matthäus- und die Markus-Passion, wobei von letzterer nur der Text erhalten ist. Jetzt präsentiert der Weimarer Cembalist, Dirigent und Musikwissenschaftler Alexander Grychtolik als „künstlerisches Experiment“ eine Aufnahme des Passionsoratoriums BWV Anh. 169 (neu: BWV S. 718), das er bereits 2023 in einem Konzert vorgestellt hat. Ausgangspunkt ist das überlieferte Libretto aus dem Jahre 1725. Grychtolik geht davon aus, dass Bach diesen Text von Picander für seine Passion am Karfreitag 1725 beauftragt habe. Vielleicht wegen einer Intervention der damals üblichen Textzensur sei die Passion – fertiggestellt oder nicht – aber nicht aufgeführt worden. Grychtolik hat bereits mehrfach verschollene Bachwerke rekonstruiert. Zum 300. Geburtstag wird das Passionsoratorium 2025 u.a. beim Leipziger Bachfest zu hören sein.

Herr Grychtolik, wie kam es dazu, dass Sie sich diesem Werk gewidmet haben?

Ich hatte mich vor vielen Jahren bereits mit diesem rätselhaften Passionsoratorium beschäftigt. Der bisherige Stand der Forschung war, dass Picander das Libretto vermutlich für einen anderen Leipziger Kantor gedichtet hat, Georg Balthasar Schott. Für diese Vermutung gibt es aber keine konkreten Hinweise, und spätere Forscher haben sie unkritisch als „Tatsache“ übernommen. So etwas passiert im Wissenschaftsbetrieb leider nicht selten. Ich beschloss, mir ein eigenes Bild von dieser Zuschreibungsproblematik zu machen, denn in der Zwischenzeit sind über Bachs Textdichter verschiedene Details bekanntgeworden, die eine Neubewertung der Quellen zulassen. So bin ich zu der Einschätzung gekommen, dass Bach eine Vertonung 1725 geplant haben muss. Diese These passt zu allem, was wir über Bach in dieser Zeit wissen, zur merkwürdigen Wiederaufführung der Johannes-Passion 1725 und zu Bachs Verbindung mit Picander, die in dieser Zeit schon sehr eng war. Der gehörte zu einem Kreis junger Textdichter, auf die Bach für seinen enormen Bedarf an Kantatentexten zurückgriff. Er schreibt sehr bildlich und originell, und es gelang ihm offensichtlich gut, sich Bachs Vorgaben anzupassen. Picanders Dichtungen sind perfekt auf Bachs Musik abgestimmt, und zum Verständnis von Bachs Leipziger Vokalwerken ist Picander sehr wichtig. Heute wirken seine Texte oft befremdlich, aber das hat mit unserem enormen zeitlichen Abstand zu tun. Ich persönlich finde die Texte von Bachs Librettisten Christian Friedrich Hunold (genannt Menantes) dichterisch etwas raffinierter, aber Picander ist sehr originell.

„Passionsoratorium, rekonstruiert und vervollständigt“ steht auf dem Cover der CD – was hat man sich darunter vorzustellen?

Mein Versuch einer Teilrekons-truktion des Passionsoratoriums ist ein Experiment: Ist das klangliche Resultat plausibel, welche Fragen bleiben offen oder tauchen neu auf? Man kann diese Arbeit als künstlerische Forschung bzw. als angewandte Musikwissenschaft verstehen. Dieses Passionsexperiment hat für mich überraschend gut funktioniert, von der Textverteilung der rekonstruierten Sätze über die erzielte Bildsymbolik bis hin zur Instrumentierung. Aber natürlich unterscheidet sich dieses Projekt von meinen früheren Arbeiten, bei denen ich aufgrund der bekannten Schwesterwerke in viel gesicherterem Terrain unterwegs war. Hier hingegen fehlt vieles und muss gänzlich offenbleiben. Aber man kann sich dieses Passionsoratorium jetzt zumindest als ein in sich geschlossenes Werk anhören und einen Eindruck bekommen, wie es in etwa geklungen haben könnte. Gerade im Vergleich mit der zweiten Fassung der Johannes-Passion, die Bach stattdessen recht kurzfristig aufgeführt hat. Deren erste Fassung von 1724 hatte ja den hochdramatischen Eingangschor „Herr unser Herrscher“, der 1725 ausgetauscht wurde. An seine Stelle trat die Choralfantasie „Oh Mensch, bewein dein Sünde groß“, die Bach auch in der Matthäus-Passion verwendet hat und die ich für das Passionsoratorium als Eingangssatz vorgeschlagen habe.

Das Gespräch führte Klemens Hippel.

Erschienen im Klassik-Frühling 2024