„Es macht Spaß, verrückt zu sein“

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Der Dirigent Gerd Schaller erschafft eine klingende Bruckner-Enzyklopädie

glaubt man den CD-Kritikern weltweit, auch ein Mann, der sich neben seiner Arbeit als Gastdirigent ganz seiner Leidenschaft widmet. Seit zwölf Jahren arbeitet der gebürtige Bamberger Gerd Schaller an seinem Projekt BRUCKNER2024: alle Symphonien Anton Bruckners in allen wichtigen Ausgaben aufzuführen und aufzunehmen. Über 20 CDs sind inzwischen beim Label Hänssler Profil erschienen.

Herr Schaller, werden Sie in Bruckners 200. Geburtsjahr im Dauereinsatz sein?
Auf keinen Fall. Einerseits würde ichs dem Bruckner wünschen, dass man ihn stark in Erinnerung bringt. Andererseits gibt es viele unbekannte Komponisten, die solch ein Jubiläumsjahr viel dringender bräuchten. Und Bruckner polarisiert sehr stark, man wird von seiner Musik entweder sofort gepackt oder lehnt sie ab. Vielen ist sie zu bombastisch oder zu überbordend. Leider wird Bruckner von den Dirigenten oft ins Extrem getrieben, entweder ins Mystische oder ins Überwältigende, Blockhafte. Dabei ist diese Musik doch so transparent, sogar kammermusikalisch, es gibt so viele interessante Stimmen und Gegenstimmen.

Foto: Axel Bahr

Was fasziniert Sie so an Bruckner?
Er ergreift mich im Innersten. Und zwar immer wieder neu. Ich könnte jetzt auf einer intellektuellen Ebene sagen, es ist sehr komplexe Musik. Aber vor allem empfinde ich sie als eine sehr hoffnungsvolle Musik mit einem spirituellen Gehalt, der mir auch sehr wichtig ist. Bei Bruckner kommt alles zu einem guten Ende im Finale. Das erhebt mich, das führt mich in andere Welten, dieses „Seid umschlungen, Millionen“ spüre ich hier ganz stark. Hinzu kommt, dass er so ein Außenseiter war. Das Bild, das wir von ihm haben als Mensch, passt ja so gar nicht zu dieser Musik. Er ist geradezu das Gegenbild zum traditionellen Künstlertypus des 19. Jahrhunderts, er war ein sehr bodenständiger Mensch. Das macht ihn mir so sympathisch.
Ich habe mich intensiv mit den unterschiedlichen Fassungen und den Autographen auseinandergesetzt und war fasziniert davon, wie ein Mensch aus demselben Material so viele Erscheinungsformen erschaffen kann. Vielleicht haben das andere Komponisten auch getan, aber die haben die anderen Fassungen vernichtet. Im Grunde war Bruckner ein großer Improvisator – wie im Jazz heute. In der Klassik ist das meiste festgelegt. Jede Note wird musikwissenschaftlich untersucht und darf nur auf eine bestimmte Weise gespielt werden – und bei Bruckner sieht man immer wieder andere Erscheinungsformen. Oft ist die zweite Fassung, vom selben Material ausgehend, komplett anders als die erste. In den ersten Fassungen geht es oft fast anarchisch zu, da hat er sich viel getraut – und dann gemerkt, das funktioniert in der Praxis nicht. Deshalb hat er immer weiter Details oder Instrumentierungen geändert, „verbessert“ – er selbst hat nie von Fassungen gesprochen. Vermutlich war Bruckner zu perfektionistisch, er hat nach einem Ideal gestrebt.

Es ist ja doch eine verrückte Idee, diese ganzen verschiedenen Erscheinungsformen auf CD einzuspielen – Sie nehmen jetzt die vierte Symphonie zum vierten Mal auf.
Manchmal macht es auch Spaß, verrückt zu sein. Ich nehme auch nicht jede Zwischenfassung auf, sonst wäre es wirklich pathologisch. Aber die Erstfassung der Vierten zum Beispiel, das ist ein ganz anderes Stück. Diese extreme Dynamik, die Clusterbildungen, die Zerrissenheit, das ist schon 20. Jahrhundert – und hochemotional. Das wird bei Bruckner so unterschätzt. Ich glaube, dass da mehr von seiner eigenen Biografie drinsteckt, als wir heute denken.

Warum nehmen Sie alles mit Ihrem eigenen Orchester, der Philharmonie Festiva, auf?
Mir geht es um die Vergleichbarkeit, ich wollte nicht, dass verschiedene Individualitäten der Orchester mit hineinspielen. Und der Festspielcharakter hat einen großen Einfluss. Wir haben alles bei den Ebracher Sommerkonzerten aufgenommen, in der Klosterkirche Ebrach, die eine ganz spezifische, zugleich opulente und transparente Akustik hat. Die Inspiration des Raumes ist sehr wichtig. Und ich wollte mir Zeit lassen. Diese Fassungen atmen einen unterschiedlichen Geist, ich brauche Zeit, mich in die jeweilige geistige Welt hineinzubegeben. Das klingt vielleicht esoterisch, aber es ist so. Und so schlimm Corona war, für mich hat es sein Gutes gehabt: Unser Zeitplan ist gehörig durcheinander gekommen, es sind noch sechs Aufnahmen offen, ich darf mich also noch ein paar Jahre mit Bruckner beschäftigen.

Das Interview führte Arnt Cobbers.

Erschienen im Klassik-Herbst 2023

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 (1874)

Philharmonie Festiva, Leitung: Gerd Schaller

erschienen beim Label Profil

Edition Günter Hänssler