Tiefempfundene Menschlichkeit

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Das Klavierduo Genova & Dimitrov hat das Gesamtwerk für zwei Klaviere von Carl Reinecke aufgenommen

Foto: Irène Zandel

Carl Reinecke (1824-1910) ist geradezu das Paradebeispiel eines Musikers, der zu Lebzeiten großen Einfluss hatte und für seine Werke gefeiert wurde, heute aber fast nur noch als Fußnote in der Musikgeschichte präsent ist. 35 Jahre lang, von 1860 bis 1895, war er Gewandhauskapellmeister. Er unterrichtete Komposition an der Musikhochschule in Leipzig, der damals vielleicht renommiertesten in Europa, und amtierte gegen Ende als ihr Rektor. Aus seinem umfangreichen Werk, das u.a. sieben Opern und vier Sinfonien umfasst, gehören nur noch das Harfenkonzert und eine Flötensonate zum Repertoire.

2021/22 haben Aglika Genova und Liuben Dimitrov Reineckes Gesamtwerk für zwei Klaviere aufgenommen – 190 Minuten Musik! Das deutsche Ehepaar griechisch-bulgarischer Herkunft gilt als eines der besten Klavierduos der Welt, sie unterrichten an der Musikhochschule Hannover und haben bereits sämtliche Werke für zwei Klaviere oder zu vier Händen u.a. von Rachmaninow, Schostakowitsch, Amy Beach, Liszt, J. Chr. Bach und Clement aufgenommen.

Frau Genova, Herr Dimitrov, war es wirklich sinnvoll, alles von Carl Reinecke für zwei Klaviere einzuspielen?

Genova: Ein ganz klares Ja. Das war eine große Überraschung: Jedes einzelne Stück verdient Aufmerksamkeit. Diese drei Stunden Musik sind so kontrastreich, es stecken so viele und schöne Ideen darin! Die deutsche Romantik wird hier in bestem Licht präsentiert von einem Meister, der zu Unrecht leider viele Jahre im Schatten stand.

Reinecke hat sich ja selbst als Epigonen bezeichnet.

So bescheiden war er! Wir haben seinen Ur-Ur-Enkel kennengelernt, der in Leipzig lebt, und viel über Reinecke erfahren. Reinecke hat unglaublich viel dirigiert, intensiv unterrichtet und als Pianist konzertiert, er hat Uraufführungen von Brahms und Schumann realisiert – und dabei sich selbst vergessen. Reinecke war für die anderen da, auch für seine Familie, er hatte neun Kinder.

Wie klingt seine Musik?

Seine wichtigsten Einflüsse waren Mendelssohn, Schumann, Brahms, manche Stellen in den Sinfonien klingen auch nach Mahler. Aber er war auch einer der besten Mozart-Interpreten seiner Zeit, wahrlich eine vielschichtige Persönlichkeit.

Dimitrov: Wir sehen ihn fast wie einen Spiegel der Musikwelt und der Komponisten seiner Zeit. Aber er hat dabei seinen eigenen Stil entwickeln können. Da ist immer eine gewisse Weichheit, eine Rundheit der Ideen, es gibt keine Phrasen, keine Entwicklung, die mit irgendeiner Schärfe verbunden wären. Alles ist in ein warmes Licht getaucht. Das zeugt auch von seinem Charakter.

Genova: Er war ein sehr gläubiger Mensch. Es gibt viel Göttliches, aber auch viel Menschliches in seiner Musik. Liszt zum Beispiel kann sehr theatralisch sein, sehr expressiv, nach außen gerichtet. Natürlich gibt es auch bei Reinecke Dramatik, aber sogar die ist runder. Reineckes Musik spricht zum Herzen, zur Seele. Sie gibt Hoffnung, sie ist optimistisch, man spürt keine großen Zweifel. Es gibt durchaus Trauer und Melancholie, aber Zerrissenheit war anscheinend ein Fremdwort für ihn.

Dimitrov: Diese Menschlichkeit ist eigentlich in jedem Ton zu hören. Gerade in diesen Zeiten, wo überall Unsicherheit herrscht, denke ich, dass diese Musik wichtig ist. Reineckes Humanität ist tief empfunden und keine Pose. Wo sich heute manche Leute ein Strähnchen abschneiden, um sich mit den Protestierenden im Iran zu solidarisieren, hätte sich Reinecke, wenn er noch leben würde, das ganze Haar abrasiert.

Genova: Und seinen Bart!

Drei Stunden Musik nur für Klavierduo – ist das abwechslungsreich genug?

Genova: Absolut. Es gibt klassische Sonaten, Bühnenwerke, italienische Mandolinenmusik, Improvisationen und Variationen über alte Volkslieder, über Gluck, den er sehr verehrt hat, über Mozart, über Bach. Was da in unsere Hände gekommen ist, ist ein Diamant. Dass diese Musik bislang wie ein verborgener Schatz war, den wir nun ausgraben durften, liegt auch am Notenmaterial. Reineckes Ur-Ur-Enkel hat dann mit den Jahren selbst angefangen, die Noten zusammenzutragen. Und wir haben auch noch Archivmaterial entdeckt, das extra für diese Aufnahme vorbereitet wurde.

Warum hat Reinecke so viele Werke für Klavierduo komponiert?

Genova: Er spielte gern mit anderen professionellen Musikern, denen hat er manche Stücke gewidmet. Seine Schwester spielte auch im Klavierduo, und vermutlich hat er auch für sie Stücke komponiert. Überhaupt war es damals üblich, Klavierduo oder Klavier vierhändig zu spielen. Clara Schumann hat zum Beispiel viel mit Brahms konzertiert, auch Liszt und Schumann haben mit Partnern gespielt. Chopin war der einzige, der das nicht besonders mochte.

Dimitrov: Aber man muss sagen, viele Komponisten dieser Zeit haben sich vor allem dem vierhändigen Klavierspiel gewidmet. Dass Reinecke so viel für zwei Klaviere geschrieben hat, ist faszinierend für uns. Er wollte anscheinend ganz bewusst diese Klangdimensionen erreichen. Etwa drei Viertel der Werke, die wir aufgenommen haben, sind Originalwerke, nur ein Viertel sind seine eigenen Bearbeitungen.

Eigentlich kommt das Album doch zwei Jahre zu früh, 2024 feiert man Reineckes 200. Geburtstag.

Genova: Reinecke war schon lange in unserer Wunschliste. Gerade das Label cpo, mit dem wir seit vielen Jahre zusammenarbeiten, orientiert sich nicht an solchen Jubiläen.

Dimitrov: Aber es ist schön, dass diese Musik nun zum Jubiläum schon da und hörbar sein wird.

Werden Sie die Werke auch live spielen?

Auf jeden Fall. Wir freuen uns, dass einige Veranstalter sehr daran interessiert sind. Es ist immer noch vieles durcheinander durch Corona, viele Konzerte werden jetzt nachgeholt. Aber es sieht so aus, als könnten wir Reineckes Werke zurück auf die Konzertbühne bringen.

Das Gespräch führte Arnt Cobbers.

Erschienen im Klassik-Winter 2022

Carl Reinecke

Sämtliche Werke für zwei Klaviere

Klavierduo Genova & Dimitrov (3CDs)

erschienen beim Label cpo