Eine veritable Entdeckung

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Dem Komponisten Heinrich Kaspar Schmid zum 150. Geburtstag

Vierzehn Jahre genau sind ins Land gegangen, seit das Raritätenlabel cpo ein erstes musikalisches Porträt des Komponisten Heinrich Kaspar Schmid (1874-1953) veröffentlicht hat. Kurzfristig löste die kammermusikalische Anthologie damals ein merkliches Interesse aus. Doch wir alle, die wir von diesen Kostproben den Startschuss zu umfänglicheren und – um’s neudeutsch zu sagen – nachhaltigen Streifzügen durch das beeindruckend vielfältige, in dreistellige Opuszahlen vorstoßende Oeuvre erhofften, müssen heute konstatieren, dass sich im Laufe von anderthalb Dekaden zu den fünf Titeln der bewussten Produktion gerade einmal Aufnahmen von vier Stücken hinzugesellt haben: Irgendwo schwirrt ein einzelnes Lied aus Schmids immensem vokalen Katalog umher; zweimal ist sein bezauberndes Duo für Horn und Klavier Im tiefsten Walde aus den Fünf Tongedichten op. 34 zu finden; es lässt sich eine Aufnahme des substantiellen Bläserquintetts op. 28 entdecken, zu dem sich Heinrich Kaspar Schmid durch Carl Spitzwegs Serenade hat inspirieren lassen; und schüchtern versteckt sich ein winziges Klavierstückchen in einem Rezital mit „Klaviermusik Karlsruher Komponisten“, in dem unser Lehrersohn aus dem niederbayerischen Landau nur deshalb berücksichtigt wurde, weil er drei Jahre lang (von 1921 bis 1924) als Direktor des Badischen Konservatoriums sowie als Dirigent des Karlsruher Lehrergesangvereins gewirkt hat. 


Foto: Stadtarchiv Landau an der Isar

Ein mageres Zwischenergebnis ist das fürwahr, und es ist desto kläglicher, als sich Schmids 150. Geburtstag mit Siebenmeilenstiefeln nähert, ohne dass gegenwärtig die geringsten Aktivitäten zu verzeichnen sind, die wenigstens auf eine bescheidene Gratulationscour schließen ließen. Gewiss, man könnte diese kritische Anmerkung mit der Behauptung parieren, dass nicht alles, was als runder Jubeltag im ewigen Kalender verzeichnet ist, auch des Aufhebens verlohne. Wohl wahr. Doch in einer Zeit, in der die natürliche Originalität insbesondere auf künstlerischem Gebiete von einer krampfhaften Suche nach „Alleinstellungsmerkmalen“ verdrängt wurde und in der wir dem alten Synonym von Schaffen und Schöpfen bestenfalls noch in alten Enzyklopädien begegnen – da könnte eine Gestalt wie Heinrich Kaspar Schmid durchaus neugierig machen, zumal er nicht allein als einfallsreicher Komponist ein buntes Betätigungsfeld hinterlassen hat: Seine pädagogischen Ansichten zur allgemeinen Vermittlung der Musik und speziell zur Unterweisung im Tonsatz bieten im Zusammenklang mit den eigenen Kreationen ein höchst anregendes Anschauungsmaterial, das es uns erlaubt, innere Schaffensprozesse nachzuvollziehen und ihnen womöglich sogar nachzueifern.

Betrachten wir den Werdegang unseres aktuellen Jubilars, so werden wir schnell bemerken, dass in ihm eine innere, wesensmäßige (und seltene) Neigung zur Lehre mit einem äußeren Glücksfall zusammentraf. Geboren am 11. September 1874 als Sohn des Volksschullehrers Heinrich Schmid und seiner Ehefrau Barbara, geb. Piechler, in Landau an der Isar, geriet der Knabe praktisch sofort in eine erzmusikalische Umgebung: „Mein Vater entstammte als Lehrer einer Zeit und einer Schule, in der die Seminaristen die Musik noch richtig lernen, d.h. üben konnten. Seine Art, die Orgel zu spielen, war nicht eine ewige Verlegenheit, er war ein firmer Geiger und Klavierspieler, spielte die Flöte, bearbeitete für seinen Gebrauch allerhand Musikstücke, und es hatte Hand und Fuß, wie er die jeweils Auserwählten seiner Schule für den Kirchenchor in mühevollen unbezahlten Singstunden heranbildete und wie er sie durch deutsche Lieder regsam und froh erhielt.“

Heinrich Kaspar ist ganze fünf Jahre alt, als ihm die Mutter zum Geburtstag des Vaters ein Klavierstückchen beibringt. Daraus resultieren sogleich die ersten Stunden am Pianoforte und an der Orgel. Drei Jahre später nimmt der Knabe auch die Geige in die Hand. Der Regensburger Domkapellmeister Ignaz Mitterer hört den Zehnjährigen singen und nimmt ihn in den Kreis seiner Domspatzen auf, womit auch die höhere Schulbildung gesichert ist. Nach dem Stimmbruch beendet Schmid seine gymnasiale Ausbildung in Straubing, fügt sich aber, obwohl er seine eigentliche Berufung immer deutlicher vernimmt, dem elterlichen Willen und tritt in die Dienste der königlich bayerischen Staatsbahnen. Diese garantieren ihm ein solides Einkommen und obendrein genug Zeit, den kompositorischen Ambitionen nachzugeben. 

Während er in Pasing auf seine Kundschaft („einmal einfach dritter Klasse“) wartet, schreibt er vergnügt seine Partituren, bis sein Vorgesetzter dahinterkommt: „Der Adjunkt Schmid treibt am Schalter höhere Musik, das treib’ ich ihm aus!“, dekretiert der Beamte und versetzt den Tonkünstler in die Expressguthalle. Worauf Schmid seinen Abschied nimmt und an die Münchner Akademie der Tonkunst geht.

Jetzt hindert ihn niemand mehr an der „höheren Musik“. Er studiert bei Rudolf Louis und bei Ludwig Thuille, holt zahlreiche Einzelpreise und Auszeichnungen und schließt mit einem glänzenden Examen: „Herr Schmid ist sehr befähigt für den Beruf des Lehrers und eines Dirigenten.“ Inzwischen hat er einige recht weite Konzertreisen mit dem Hofoperntenor Raoul Walter und dem Geiger Willy Burmester unternommen, und 1905 erhält er selbst an der Münchner Akademie eine Stelle als Lehrer für das Pflichtnebenfach Klavier. Er heiratet, zieht als Reserveoffizier in den Krieg, lebt mit seiner Familie zeitweilig, wie erwähnt, in Karlsruhe, wird Direktor der Augsburger Musikschule, die im Laufe seiner siebenjährigen Tätigkeit zum Konservatorium aufsteigt, und lebt im Dörfchen Geiselbullach. Am 8. Januar 1953 stirbt er nach längerer Krankheit in München.

Seine schöpferische Hinterlassenschaft nötigt schon unter quantitativen Gesichtspunkten Respekt ab. Von etlichen Klaviersolo-Sachen bis zur (späten) Symphonie op. 115, von rund einem halben Dutzend Duosonaten und fünf Trios (wovon drei Werke auf der oben angesprochenen cpo-CD zu hören sind) bis hin zum Cellokonzert op. 118, von der Kammeroper Der Stern des Kaisers bis zu einem immensen Katalog unterschiedlich besetzter Lieder und Gesänge reicht das Vermächtnis, in dem Heinrich Kaspar Schmid seine Prinzipien und sein Credo hat Ereignis werden lassen: „Theorie hoch in Ehren, aber ich halte jedes vom eigentlichen Musizieren losgelöste Theoretisieren als [sic!] Übel, vor allem als eine Zeitverschwendung“, bekannte der einstige Schalterbeamte. Und: „Wie mit dem Inhalt, so ist’s auch bei der Form: Gestaltungskunst ist alles, sie umfaßt alles, das Technische und Geistige eines Werkes; ihr läßt sich aber nicht von außen, sondern nur von innen beikommen.“ Da spricht der Komponist und Lehrer, für den – oft genug aus dem echten Volksliedschatz schöpfend – der „Ton“ sowohl das klingende als auch das irdene-formbare Material bedeutet, und für den „höhere Musik“ nicht darin besteht, geist-reiche „Einfälle“ in vorgefertigte Schablonen zu pferchen: Er lehrt nicht die, sondern das Formen, ein lebendiges, organisches, „enthusiastisches“ (wörtlich: von Gott erfülltes) Wachstum, das immer was zu erzählen, mithin zu sagen hat. Kein Wunder, dass das der Vorgesetzte in Pasing nicht ausstehen konnte.

Rasmus van Rijn

Erschienen im Klassik-Herbst 2024