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Die Komponistin Charlotte Sohy

Albert Roussel, Vincent d‘Indie und Louis Vierne zählten zu ihren Lehrern, Nadia Boulanger zu ihren Mitschülern: Allein schon diese Informationen machen Lust, einen genaueren Blick auf Charlotte Sohy zu werfen, eine der zahlreichen Komponistinnen, die viel zu lange unter dem Radar von Musikern und Historikern geblieben sind. In ihrem Falle ist es einem ihrer 21 Enkelkinder zu verdanken, dass ihre längst vergessene Musik heute wieder gespielt werden kann: François-Henri Labey, der selbst als Direktor mehrerer Konservatorien wirkte, begann 1974, das Erbe seiner Großeltern zu ordnen. Ursprünglich interessierte er sich dabei vor allem für seinen Großvater, den Komponisten Marcel Labey, bis er herausfand, dass die Lieder von dessen Frau viel interessanter sind. Seitdem war es ihm ein Anliegen, alle ihre Kompositionen zu erfassen und für Konzerte zur Verfügung zu stellen. Manche Lieder seiner Großmutter hat er auch selbst orchestriert.

Charlotte Sohy (1887-1955)

Charlotte Sohy wurde als Charlotte Durey am 7. Juli 1887 in Paris geboren – wie die meisten komponierenden Frauen dieser Zeit in wohlhabendem Hause. Als sich ihr Interesse an der Orgel zeigte, ließ ihr Vater, ein Unternehmer, kurzerhand eine Orgel des berühmten Orgelbauers Cavaillé-Coll in seinem Haus aufstellen. Ihre Mutter war Amateursängerin, die Kontakt mit vielen Künstlern hatte. So interessierte sich auch Charlotte Sohy nicht nur für Musik, sondern auch für Literatur, schrieb Theaterstücke und einen Roman. Nach zunächst häuslichem Unterricht hatte sie seit 1908 Gelegenheit, die 1894 von Vincent d‘Indy gegründete Schola Cantorum zu besuchen. Hier lernte sie im selben Jahr ihren späteren Ehemann Marcel Labey kennen, der zum Glück, anders als ein Gustav Mahler, eine künstlerisch aktive Frau ertragen konnte und sie an einer musikalischen Karriere nicht hinderte. Im Gegenteil, sie arbeiteten gerne miteinander: Er dirigierte ihre Musik, sie schrieb ein Libretto für sein Drame lyrique Berengar. Obwohl Mutter von sieben Kindern, hatte sie durchaus Zeit zum Komponieren – dank eines großbürgerlichen Haushalts mit Kindermädchen, Haushälterinnen und Hauslehrern.
Veröffentlichen ließ Charlotte Sohy ihre Werke allerdings unter dem Namen ihres Großvaters Charles Sohy, vermutlich weil der Name einer Frau als Komponistin dem Erfolg ihrer Musik geschadet hätte. Daneben verwendete sie Pseudonyme wie Louis Rivière und Claude Vincent.
Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Marcel Labey verwundet wurde, zog das Paar in die Normandie. Dabei machte es nicht nur das Leben in der Provinz schwieriger, die eigene Musik aufzuführen; Charlotte Sohys ausdrucksstarke, spätromantische Tonsprache traf nun nicht mehr den Geschmack der Zeit. So wurde 1923 die Uraufführung ihrer Oper Die gekrönte Sklavin abgesagt; erst 1947 kam sie in Mulhouse auf die Bühne. Die meisten Arbeiten Charlotte Sohys gehören allerdings dem Feld der Kammermusik und des Liedes an, wobei sie für ihre Lieder zum Teil selbst die Texte schrieb, wie etwa für ihr 1905 entstandenes op. 1, Berceuse triste. Kammermusik komponierte sie für die unterschiedlichsten Besetzungen. Eine Komposition für Violine und Orchester aus dem Jahre 1921 ist Nadia Boulanger gewidmet, eine 1919 entstandene Sinfonie wurde 2019 uraufgeführt. Noch 1950 machte sie aus einer geplanten Filmmusik eine Suite, ihre vorletzte Komposition. Insgesamt umfasst ihr Oeuvre 35 Werke. Ihr besonders interessantes erstes Streichquartett op. 25 aus dem Jahre 1933 kann man im Juni in Würzburg beim Mozartfest live erleben.
Charlotte Sohy starb am 19. Dezember 1955 in Paris, 13 Jahre vor ihrem zwölf Jahre älteren Mann. Der seinem Enkel mit auf den Weg gab: „Danke, dass du meine Musik schätzt, aber du solltest Musik meiner Frau hören; wenn du denkst, ich hätte Talent, dann war sie ein Genie.“

Klemens Hippel

Erschienen im Klassik-Frühling 2023