Zum 200. Geburtstag des großen Komponisten César Franck
Die Geschichte, nach der Marcel Proust in den verdunkelten Nächten des Kriegsjahres 1916 die Mitglieder des Poulet-Quartetts zu mitternächtlicher Stunde aus den Betten klingeln ließ, um sich an seinem Bett, umgeben von den losen Blättern der Recherche, das Streichquartett Francks vorspielen zu lassen, ist mehr als bloß eine launige Anekdote.
Der Romancier erspürte in der brennenden Intensität dieses Schlüsselwerkes des Fin-de-siècle-Ästhetizismus eine in ihrer absoluten Hingabe rätselhaft-selbstgefährdende Haltung zur Kunst. So begann er sich für den schon 26 Jahre zuvor verstorbenen Komponisten zu interessieren, der ihn schließlich derart fesselte, dass er ihn literarisch in den Komponisten Vinteuil verwandelte. „Vinteuil symbolisiert den großen Komponisten von der Art César Francks“, schrieb Proust sehr eindeutig. So lebt Franck im größten Romanwerk aller Zeiten, der Suche nach der verlorenen Zeit, fort. Als Schöpfer der berühmten Violinsonate verkörpert er darin das verkannte Genie und den von seiner Familie beherrschten „alten Trottel“, wie es Proust mitleidlos formulierte.
Im Reich der künstlerbiographischen Trauerspiele mit ihren verlorenen Kindheiten, abgeknickten Entfaltungen und Scheiternserfahrungen nimmt die Vita Francks einen erhabenen Platz ein. In aller Ereignislosigkeit symbolisiert sie, wie die Kunst ein ganzes Dasein sozusagen aufzehrt, bis davon außerhalb der Musik kaum mehr etwas bleibt. Das war es, was Proust erahnte, als er sich nächtens dem Franckschen Werk hingab.
Francks durchweg amusische Vorfahren stammten aus dem deutschsprachigen Teil des Limburger Landes westlich von Aachen. In diesem Dreiländereck überschnitten und befruchteten sich die Sprachen und Kulturen, und man wusste kaum zu sagen, von welcher Nationalität man war – den Staat Belgien gab es ja noch nicht. Sein Vaterunser betete Franck bis ins Alter auf Deutsch, die väterliche Erziehung durchlitt er auf Französisch. Er hätte sich vermutlich gewundert, dass sich deutsche und französische Musikologen einmal erbittert um die Herkunft, ja ums Blut des Komponisten zanken würden. Die Vorstellung, ein halber oder ganzer Deutscher könnte zum Neubegründer der französischen Schule geworden sein, war den Franzosen unerträglich, und so konstruierte Francks hocharistokratischer Meisterschüler Vincent d’Indy eine rein gallische, bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Ahnenlinie. Der Deutsche Musikologe Walter Mohr hielt 1942 mit seinem Buch Cäser Franck. Ein deutscher Musiker im Zeitgeist dagegen. Und noch vor ein paar Monaten sagte mir ein junger französischer Musikwissenschaftler, über Franck werde derzeit wenig geforscht, da er „nicht ganz französisch“ sei.
Franck wuchs unter einer väterlichen Tyrannei auf, die er sein Leben lang nicht abschütteln konnte. „Welches Alter hat César Auguste Jean Guillaume Hubert Franck, geboren zu Lüttich im Ostviertel am 10. Dezember 1822 um halb fünf morgens, heute den 18. Februar 1831 um 3 Uhr 22 und eine halbe Minute nachmittags? Antwort: 8 Jahre, 2 Monate, 8 Tage, 10 Stunden, 52 Minuten, 30 Sekunden.“
Solche Aufgaben stellte Nicholas-Joseph Franck seinem Sohn, den er mit einer kontrollsüchtigen Rigorosität zu einem Wunderkind-Automaten zu dressieren begann. Spiel und Kindheitsglück erlebte der Junge nicht, alles schien auf das Ziel ausgerichtet, mit diesem Wunder an Frühreife die ganze Familie zu ernähren. Kaum hatte er in Lüttich ausstudiert, zogen die Francks nach Paris. Das schien der rechte Ort für den zwölfjährigen Wunderknaben, der seine virtuosen Klavierkompositionen mit einer Liszt und Alkan ebenbürtigen Fingerfertigkeit vorzutragen wusste. Aber etwas fehlte ihm. Die Pariser Musikkritik urteilte grausam: „Gewiss hat dieser junge Mann Talent, aber es ist ein mechanisches Talent. Es ist angenehm, sauber, trocken. Für ihn ist Inspiration als Komponist oder Interpret ein verschlossenes Buch. Eine Melodie oder eine Schwierigkeit vertreiben niemals sein unaustilgbares stereotypes Lächeln.“ Es sollte seine lebenslange Maske bleiben.
Das Konservatorium verließ Franck nach glänzendem Beginnen ohne Abschluss, und alle Musik, die er schrieb, darunter vier Klaviertrios, ein Klavierkonzert, ein immerhin milde erfolgreiches Oratorium Ruth und die sinfonische Dichtung Was man auf dem Berge hört, versanken rasch in Vergessenheit.
Mit 25 Jahren frisch verheiratet, schien sein Schicksal besiegelt – als Hilfsorganist und Lehrer unbegabter Musikschüler. Als Komponist verfiel er in Schweigen – für vierzehn lange Jahre. Die Wiedererweckung mutet wie ein Wunder an. Ohne sich beworben zu haben, wurde Franck 1857 Titularorganist an der neu erbauten, eher unbedeutenden, Kirche Ste-Clotilde im aristokratischen Faubourg St-Germain. Die vom genialen Cavaillé-Coll konstruierte Orgel war ein wahres romantisches Orchester, und Frank liebte sie über alles. Sein Schüler und Nachfolger Gabriel Pierné erinnerte sich:
„Der Pfarrer hatte schließlich ein Glöckchen im Windwerk installieren lassen. Dieses Glöckchen signalisierte: Monsieur Franck, der Priester weist Sie an, zum Schluss zu kommen. Der in sein Spiel versunkene Franck überhörte das zarte Klingeln oft, sodass man sich gezwungen sah, eine durchdringendere, elektrische Klingel zu installieren. Die konnte Franck beim besten Willen nicht überhören. Dann pflegte er aufzuschreien: ‚Aber ich habe doch noch gar nichts gesagt. Wie schade! Niemals habe ich Zeit, in die korrekte Tonart zurückzukehren!’ Und ungerührt pflegte er nach allen Regeln in die Grundtonart zurückzumodulieren. Dann sah man den Priester verzweifelte Blicke zur Orgelempore werfen, während die Offizianten ihre Gebete besonders langsam sprachen. Dauerte die Rückmodulation allzu lange, erhob sich der tapfere Priester (…), begab sich höchstselbst zum Klingelschalter, um zwei oder drei gebieterische Glockenschläge abzugeben, und schickte seine Chorknaben auf die Empore, um seine Weisung zu unterstreichen. Aber Franck, sein Traumgebilde errichtend, ließ nicht locker.“
Man ließ ihn gewähren, hatte doch der Pariser Erzbischof zum Gemeindepriester gesagt: „Sie haben einen wunderbaren Fürbitter, mein Sohn. Er wird Gott mehr Seelen gewinnen, als wir es können.“
Obwohl nun Titularorganist und schließlich Orgelprofessor am Conservatoire, hörte er nicht auf, Privatschüler in ganz Paris zu unterweisen. Als übe der längst verstorbene Vater einen magischen Bann aus, blieb Francks Alltag ein Hetzen im Zeitkorsett. Muße zum Komponieren fand er nur zwischen 5 und 7 Uhr morgens und in den Sommerferien, die er in der Nähe von Paris verbrachte. In dieser knappen Zeit komponierte er ein Oeuvre, das sein Schüler d’Indy in die direkte Beethoven-Nachfolge stellte. Erst mit weit über 50 Jahren wurde er der „eigentliche“ Franck. Außer den Six Pièces für Orgel (1864) kennt die Musikwelt kein einziges seiner früheren Stücke. Es ist, als habe dieser Komponist überhaupt erst als alter Mann existiert, als von seinem Schülerkreis verehrter „Pater Seraphicus“, engelsgleicher Vater, ein milder, uneigennütziger Musikheiliger, der sein Leben der Kunst opfert.
Man würde sein spätes Werk allerdings missverstehen, sähe man es im Licht orthodoxer Religiosität. Nicht der Kirche gewann er die Seelen, sondern dem kunstreligiösen Konzertritual. Schon die Six Pièces waren säkulare Formen ohne liturgische Bindung. Von der Orgelbank blickte er in den Konzertsaal. Auch die Seligpreisungen, das verkannte Opus magnum, gehören dorthin. Franck war kein Kirchenkomponist, und doch identifizieren wir die brennende emotionale Intensität des exzessiven f-Moll-Klavierquintetts oder der konzertanten Orientvision der Djinns mit einer quasi-religiösen Sphäre. Programmatische und absolute Werke scheinen ihre komplexe Form, die sich oft dem zyklischen Denken des späten Beethoven nachbildet, einem dualistischen, fast manichäischen Denken zu unterwerfen, in dem sich ein erlösungsbedürftiges Individuum aus komplexen Finsternissen freiarbeitet.
Wer einmal durchlitten hat, wie sich das Choralthema des Prélude, Choral et Fugue kurz vor Ende aus seinen fast apokalyptischen kontrapunktischen Verschlingungen löst, der begreift, das hier existenzielle Dinge zur Sprache kommen, für die die französische Musik bis dahin kein Vokabular besessen hatte. Gleiches gilt für die Éolides, deren Motivfäden sich so anmutig umschlingen, oder für die Sinnlichkeit der Psyché, die der Erotik im Tristan in nichts nachsteht. Dass der „alte Tottel“ höchst Bedenkliches zu Papier brachte und zu einem Erzvater des dekadenten Ästhetizismus aufsteigen sollte, lag außerhalb seines Vorstellungsvermögens.
Demütig seinem Werk verschrieben, allem anderen gegenüber abgekapselt, ohne Reise- und Bildungserlebnisse, ohne eigene Schriften, war César Franck zugleich der reinste aller Musiker und der verkannte Kauz, als den Proust ihn beschrieb. Wer weiß, was er noch komponiert hätte, wäre er nicht auf dem Weg zu einer privaten Kammermusik von der Deichsel eines Pferdeomnibusses in die Seite getroffen worden. Von den Folgen des Unfalls sollte der 68-Jährige sich nicht mehr erholen. Proust hatte es verstanden. Einen größeren Dulder im Leben gab es nicht. Hier war eine Existenz zu besichtigen, deren besserer Teil ganz von der Kunst absorbiert worden war.
Matthias Kornemann
Erschienen im Klassik-Winter 2022