Geistreiches Gespräch

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Eine kurze Geschichte des Streichquartetts

Der Geburtsort des Streichquartetts ist uns genau bekannt: Es war das Schloss Weinzierl im heutigen Niederösterreich, südlich der Donau. Dort besaß der musikliebende Baron Fürnberg eine Sommerresidenz. Er hatte Mitte der 1750er-Jahre den jungen Joseph Haydn beauftragt, ein Stück für vier Streicher zu schreiben. Die Besetzung bestand aus seinem Verwalter, einem Pfarrer, dem Cellisten Albrechtsberger und dem Komponisten selbst. „Haydn … nahm den Antrag an, und so entstand sein erstes Quartett, welches gleich nach seiner Erscheinung ungemeinen Beyfall erhielt“, heißt es in einer frühen Haydn-Biografie über den geschichtsträchtigen Moment. Das dürfte um 1759 gewesen sein, als Haydn Mitte zwanzig war.

Natürlich ist das Streichquartett nicht vom Himmel gefallen, sondern das Produkt einer verzweigten Vorgeschichte. Seine Wurzeln sind über Italien, Paris und die deutschsprachigen Länder verteilt und aus verschiedenen Formen der Instrumentalmusik erwachsen. Und doch, trotz dieser langwierigen Entwicklung aus unterschiedlichen Einflüssen ist Haydn so etwas wie der Vater und Erfinder des klassischen Streichquartetts. Denn bei ihm sind die Fäden zusammengelaufen – und, ganz wichtig, er hat sie aufgenommen und weitergesponnen. Das unterscheidet Haydn von seinem Zeitgenossen Luigi Boccherini. Der begründete in Mailand nämlich nahezu zeitgleich eine eigene Tradition, verfolgte deren Entwicklung aber lange nicht so konsequent und systematisch.

Haydn schrieb in rund 50 Jahren insgesamt 68 Quartette. Schon das erwähnte Opus 1/1 zeigt einen wichtigen Wesenszug, der das Streichquartett später prägen sollte: Es war für eine gemischte Besetzung aus Profis und Amateuren gedacht – und repräsentierte damit die Idee der häuslichen Kammermusik, bei der Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten in privatem Rahmen musikalisch miteinander kommunizieren. Goethe hat diesen Gedanken der Konversation in einem viel zitierten Brief auf den Punkt gebracht: „Man hört vier vernünftige Leute sich … unterhalten.“

Die Idee des musikalischen Gesprächs gehört ebenso zur Aura des Streichquartetts wie die Vorstellung von der besonderen Würde des vierstimmigen Satzes. Beides zusammen begründete gemeinsam mit dem hohen kompositorischen Standard den Mythos von der Gattung als Krönung der Instrumentalmusik.

Doch davon war Haydns Erstling noch ein gutes Stück entfernt: Die ersten Quartette, in op. 1 und 2 zu damals üblichen Sechserbündeln zusammengefasst, schlugen zunächst einen sehr leichtfüßigen Tonfall an und hießen dementsprechend auch Divertimento: ein netter musikalischer Zeitvertreib.

Erst mit dem Zyklus op. 9 (1769/70) änderte sich das: Die Werke sind ausdrucksvoller und thematisch sehr viel enger verzahnt, eine Entwicklung, die Haydn mit op. 17 und erst recht op. 20 konsequent weitertrieb.

Das Joachim-Quartett, das berühmteste Quartett des späten 19. Jahrhunderts, in der Berliner Singakademie

Danach legte der Komponist eine zehnjährige Pause vom Quartettschaffen ein, bevor er mit dem Zyklus op. 33 von 1781 eine epochemachende Wirkung entfaltete. Diese sechs Quartette gelten heute als Gründungsurkunde des klassischen Streichquartetts im engeren Sinne – weil sie einen Prototyp darstellen, an dem sich nachfolgende Komponisten orientierten: Hier, in op. 33, gelang Haydn jene geistreiche Kombination aus hohem Anspruch und geschmeidigem Plauderton, aus kontrapunktischer Kunstfertigkeit und stilisierter Volksmusik, die das „klassische“ Idiom ausmacht. Er selbst war sich der Entwicklung sehr bewusst und warb in Briefen für die sechs Quartette mit dem Versprechen: „Sie sind auf eine gantz neue besondere Art.“

Haydns op. 33 spornte wiederum Mozart zu seinen sechs „Haydn-Quartetten“ an; so erlebte die Gattung Mitte der 1780er-Jahre eine einzigartige Blüte und machte Wien zur wichtigsten kammermusikalischen Metropole. Mozarts Quartette gingen noch einen Schritt weiter als die von Haydn – etwa in der teilweise atemberaubend chromatisierten Stimmführung und Harmonik des „Dissonanzenquartetts“ – und zementierten den exquisiten kompositorischen Standard der Gattung. Damit lag die Messlatte sehr hoch; viele junge Musiker wählten jetzt einen Quartettzyklus als ihr Opus 1, um damit sozusagen ihre Meisterprüfung abzulegen.

Einen Nachteil allerdings hat das außergewöhnliche Niveau der Vorbilder Haydn und Mozart: dass wir andere hervorragende Komponisten der Zeit zu schnell übersehen und unterschätzen. Da gibt es noch einiges zu entdecken.

Wenig später knüpft dann Ludwig van Beethoven bei Haydn und Mozart an und verdichtet die motivischen und harmonischen Prozesse weiter. Nachdem sein op. 18 eine Art Schlusspunkt des klassischen Wiener Quartettstils war, dringt Beethoven mit den „Rasumowsky“-Quartetten op. 59 aus den Jahren 1805/06 in neue Dimensionen vor: Sie markieren einen entscheidenden Wandel in der Geschichte der Gattung, und zwar auf mehreren Ebenen.

Was einem sofort ins Ohr springt, ist ein massiger, mitunter fast orchestral wirkender Klang. Dieser Eindruck entsteht vor allem durch einen stärkeren Einsatz der beiden tiefen Stimmen und durch die generell angehobene Dynamik: Beethoven nutzt das Forte und Fortissimo viel häufiger als seine Vorgänger. Das hat mit dem um 1800 entwickelten Tourte-Bogen zu tun, der es den Streichern erlaubte, mehr Druck auf die Saite auszuüben, sprich: lauter zu spielen. Die größere Klangfülle sprengte den Rahmen der privaten Kammer, weshalb das Quartett nun in größere Säle strebte und von der Haus- zur öffentlichen Konzertmusik wurde. Gleichzeitig sorgten die gestiegenen technischen Ansprüche dafür, dass die Werke für Laien nur noch schwer zu bewältigen waren – so entstanden die ersten professionellen Ensembles.

Die Kompositionen haben jetzt mehr Gewicht und werden in op. 59 nicht mehr als Sechser-, sondern als Dreiergruppe veröffentlicht. Ab Beethovens „Harfenquartett“ op. 74 erhält dann sogar jedes Quartett eine eigene Opuszahl. Aus dem spielerischen Divertimento ist also binnen weniger Jahrzehnte ein anspruchsvolles Tonkunstwerk geworden, das mit konzentrierten und musikalisch gebildeten Zuhörern rechnet.

Beethovens späte Quartette treiben diesen Prozess weiter auf die Spitze und erschließen noch einmal völlig neue Wege: Mit ihren formalen Experimenten, den monströsen Ausmaßen (op. 130 dauert in der Originalversion rund 50 Minuten), den extremen Ausdruckskontrasten zwischen lyrischer Wärme und ruppiger Schroffheit, dem stellenweise persönlichen Tonfall, aber auch den klangfarblichen Sensationen nehmen die späten Beethoven-Quartette vieles von dem vorweg, was in der Gattung später passieren sollte. Bis heute haben sie nichts von ihrer mitunter verstörenden Größe eingebüßt. Sie wirken zeitlos modern und gelten immer noch als wichtigster Prüfstein für jedes professionelle Streichquartett.

Schauen wir uns noch einige der wichtigsten Werke aus der Zeit von Beethoven bis heute an: Da sind zunächst die drei letzten Quartette von Franz Schubert, eins schöner, tiefer und herzzerreißender als das nächste. Bei Schubert stehen oft großräumig angelegte Themenkomplexe im Vordergrund, in denen das Prinzip von Melodie und Begleitung über weite Strecken gewahrt bleibt. Allerdings ist diese Anlage von intensiver motivischer Arbeit durchdrungen. Und wie schon der späte Beethoven entwickelte auch Schubert mitunter das gesamte musikalische Material eines Stücks aus einer einzigen Keimzelle. Dieses Prinzip einer Verklammerung und Vernetzung der verschiedenen Sätze durch thematische Verbindungen oder Zitate sollte auch später eine wichtige Rolle spielen. Etwa in den frühen Quartetten von Mendelssohn, die in mehrerlei Hinsicht auf Beethoven reagieren. So nimmt etwa das Ende von op. 13 die langsame Einleitung wieder auf, mit der das Stück begonnen hat. Auch der ungewöhnlich schroffe Ton des späten, vom Schmerz über den Tod seiner Schwester Fanny geprägten f-Moll-Quartetts wäre ohne Beethoven kaum denkbar.

Fanny Hensel selbst ließ sich in ihrem einzigen Quartett (1829/34) ebenfalls von den dunklen Unisono-Farben des späten Beethoven inspirieren. Robert Schumanns Auseinandersetzung mit dem Vorbild mündete dagegen eher in einer Wendung des Quartetts zum poetischen Charakterstück, hinreißend gelungen vor allem in seinem op. 41/3.

Über 30 Jahre später, 1873, stellt sich der 40-jährige Johannes Brahms der Tradition und veröffentlicht seine zwei herrlichen Quartette op. 51 – nachdem er angeblich zwanzig frühere Versuche vernichtet hat. Sich dem hohen Anspruch zu stellen, ist keine leichte Aufgabe, gerade für einen so selbstkritischen Komponisten wie Brahms. Auch er wandelt auf Beethovens Spuren, indem er die einzelnen Sätze seines c-Moll-Quartetts aus einem einzigen Kernmotiv aufkeimen lässt. Bei César Franck wird aus diesem Gedanken ein zyklisches Thema, das sein einziges Streichquartett (1889) prägt; analog zum bereits 1878 entstandenen g-Moll-Quartett von Edvard Grieg. Beide Stücke treiben die orchestralen Tendenzen des mittleren Beethoven weiter auf die Spitze.

In Griegs Quartett zeigt sich noch ein weiterer Trend aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die zunehmende Integration folkloristischer Elemente, die schon seit den österreichisch-ungarischen Färbungen bei Haydn Bestandteil der Gattung war. Dvořáks bekanntestes (aber für sein umfangreiches Quartettschaffen eher untypisches) F-Dur-Quartett, das „amerikanische“, hat solch ein Lokalkolorit, ebenso Smetanas autobiografisch inspiriertes Aus meinem Leben und auch die Quartette von Borodin. Vor allem Borodins viel zu selten gespieltes erstes Quartett bezieht sich wieder explizit auf den späten Beethoven durch motivische Zitate, aber auch strukturelle Parallelen und die Fortführung von dessen klangfarblicher Experimentierfreude, mit dem faszinierenden (und sauschwer zu intonierenden) Flageolettzauber im Trio des ersten Quartetts. Ein wahres Fest der Klangfarben feiern die beiden Quartette von Debussy (1893) und Ravel (1903); besonders reizvoll ist etwa der ausgiebige Pizzicato-Gebrauch in den raschen Binnensätzen. Dort wird das Streich- zeitweise zum Zupfquartett.

In Wien knüpft derweil Alexander von Zemlinsky zunächst bei Brahms an, um danach in Richtung Moderne aufzubrechen und unter anderem seinen Schwager Arnold Schönberg zu zitieren. Dessen eigenes, 1897 entstandenes Quartett in D-Dur bekennt sich deutlich zur Spätromantik, während sein offizieller Gattungserstling op. 7 von 1905 an der Schwelle zur Neuen Musik steht und das Konzept der zyklischen Einheit noch einmal zusammenfasst und überhöht. Das zweite Quartett ergänzt die Streicher um eine Gesangsstimme und bewegt sich in der Atonalität, bevor das dritte und vierte dann zwölftönig sind.

Heute treten Streichquartette auch mal so auf: Das vision string quartet aus Berlin nutzt zahlreiche Effektgeräte (Foto: Sander Stuart)

Schönbergs Schüler Anton Webern formuliert in seinen fünf Sätzen op. 5 oder den sechs Bagatellen op. 9 Aussagen von äußerster Knappheit; bei Alban Berg lodert ein spätromantischer Ausdruckswille, insbesondere in der Lyrischen Suite (1925/26). Das Stück birgt zahlreiche Anspielungen auf eine heimliche Liebesbeziehung des Komponisten; ähnlich wie die stilistisch weit entfernten, aber nicht minder genialen zwei Quartette von Leoš Janáček, die nahezu zeitgleich entstanden sind und mit eruptiven Gesten von den hitzigen Gefühlen für eine jüngere Frau künden.

Solche persönlichen Aussagen gab es schon bei Beethoven – besonders deutlich im Heiligen Dankgesang eines Genesenden aus op. 132 – und danach unter anderem bei Mendelssohn, Smetana und Tschaikowsky, der sein drittes Quartett dem Andenken eines befreundeten Geigers widmete und darin einen ergreifenden Trauerton anschlug.

Biografische Bezüge finden sich ebenfalls im ersten Quartett von Béla Bartók (1908/09), mit seinem Trauerlied auf die unerwiderte Liebe zur Geigerin Stefi Geyer im Kopfsatz. Das Stück ist der Auftakt zu insgesamt sechs Gattungsbeiträgen, die ohne Zweifel zu den größten Meisterwerken der Kammermusik allgemein gehören. Bartók knüpft wiederum auf verschiedenen Ebenen bei den Ideen, Techniken und Strategien Beethovens an und verwebt sie mit Einflüssen der ungarischen Volksmusik zu seinem charakteristischen Quartettstil, der höchste handwerkliche Kunstfertigkeit und tiefe Emotionalität zusammenbringt. Auch im Schaffen von Dmitri Schostakowitsch nehmen die Quartette, 15 an der Zahl, eine wichtige Rolle ein. Sie bieten ihm einen einigermaßen geschützten Raum für versteckte Botschaften zu seiner schwierigen persönlichen Situation, nicht nur während der Stalin-Diktatur. In den letzten, zunehmend trostlos düsteren Werken dünnt der vierstimmige Satz immer mehr aus, bis manchmal nur noch ein einsamer Monolog übrigbleibt.

Neben dem recht umfangreichen Schaffen von Bartók, Schostakowitsch und Mieczysław Weinberg – mit großartigen Entdeckungen unter den 17 Quartetten! – gibt es im 20. Jahrhundert eine Reihe bedeutender Einzelwerke. Dazu gehören unbedingt die beiden Ligeti-Quartette, das einzige von Witold Lutosławski und Luigi Nonos ebenso fein verästeltes wie verrätseltes Hörlabyrinth Fragmente – Stille. An Diotima. Daneben ragt noch Morton Feldmans zweites Quartett mit seiner Spieldauer von rund fünf Stunden wie ein Monolith aus der Kammermusiklandschaft heraus.

Unter den lebenden Komponisten haben vor allem György Kurtág – in der Nachfolge von Weberns Destillat-Stil –, Sofia Gubaidulina und Wolfgang Rihm bereits Großes geschaffen. Zu den wichtigsten Quartetten des aktuellen Jahrtausends zählt neben vielen anderen sicher Helmut Lachenmanns drittes mit dem Titel Grido (Der Schrei). Eine nahe liegende Assoziation, wenn die Bogenhaare krächzend am Steg schaben, um Dissonanzen in die Saiten zu kratzen. Es gibt aber auch ganz zarte Momente, mit flötendem Flageolett-Flirren oder weich gehauchten Rauschklängen. Eines ist jedenfalls klar: Aus der verspielten Konversation für den Adel des 18. Jahrhunderts ist eine lebhafte demokratische Diskussion geworden.

Marcus Stäbler

Erschienen im Klassik-Sommer 2022