Der Dresdner Paul Büttner: ein Arbeiterkomponist auf den Spuren von Bruckner und Brahms
Es war keine Gnade, in den Jahren um 1860 und 1870 geboren und Komponist zu sein. Wagner beherrschte die ganze musikalische Welt, und wer mit der Sinfonie andere Pfade einschlug, geriet unausweichlich in den Schatten von Beethoven, Bruckner und Brahms. Im deutschsprachigen Raum fand nur Gustav Mahler zu einem neuen, unverwechselbaren Individualstil. Und deswegen überlebte auch nur er im Repertoire.
Die sinfonische Entwicklung verlagerte sich unverkennbar ins Ausland: Edward Elgar, Jean Sibelius, Carl Nielsen, Alexander Glasunow, Albert Roussel und der sich als Ungar fühlende Franz Schmidt feierten bemerkenswerte Erfolge, während Charles Ives und Wilhelm Stenhammar erst Jahrzehnte nach ihrem Tod entdeckt wurden. Sie verstanden es, die sinfonische Tradition mit neuen Impulsen zu bereichern, was auch dem jeweiligen nationalen Idiom zu danken war. Komponisten aus Mitteleuropa war dies nicht möglich. Entweder konvertierten sie frühzeitig zur sinfonischen Dichtung (wie Richard Strauss) oder warfen sich (wie Hans Pfitzner) erst im Rentenalter auf diese Gattung, wenn sie nicht (wie Max Reger) die bescheidene Bezeichnung „Sinfonietta“ vorzogen. Ein zu starker Traditionsbezug führte ins Abseits; mögen die Sinfonien von Felix Woyrsch, Hermann Bischoff, Emil Nikolaus von Reznicek, Richard Wetz, Fritz Volbach und Ewald Straesser noch so makellos schön und mitreißend sein – spätestens nach 1950 empfand man sie als veraltet.
So erging es auch Paul Büttner, dem größten sinfonischen Schwergewicht unter all den unglücklichen Generationsgenossen. Wobei das Wort „Genosse“ hier durchaus doppelsinnig ist. Denn Büttner dirigierte Arbeiterchöre und Konzerte für die Arbeiterschaft und verleugnete auch als Direktor des Dresdner Konservatoriums nie seine politische Überzeugung – weswegen ihn die Nazis 1933 seiner Ämter enthoben und aller Einnahmequellen als Kritiker beraubten. Die letzten zehn Lebensjahre verbrachte er nicht nur beruflich in prekären Verhältnissen, denn seine Frau Eva, sozialdemokratische Abgeordnete im Sächsischen Landtag, Publizistin und Gründerin einer Volksmusikschule, war Jüdin.
Paul Büttner stammte aus Dresden und blieb der Stadt lebenslänglich treu. Sein Vater arbeitete in einer Glasfabrik, die musikalische Früherziehung war dürftig. Aber das Talent riesig, sodass er mit achtzehn Jahren nicht nur Oboe und Bratsche studieren konnte, sondern auch Kompositionsunterricht bei Felix Draeseke erhielt. Nach dem Tod des Vaters verdiente er den Unterhalt der Familie als Instrumentalist in kleineren Ensembles, ging nach Bremen und nach Litauen und trat im Gewerbehaus seiner Heimatstadt auf, aus dessen Orchester schon bald die Dresdner Philharmonie hervorgehen sollte.
Aufgrund seiner Herkunft war ihm auch die niedrigere Sphäre vertraut. Nach einer in Sporbitz, einem Dorf östlich von Dresden, mit Tanzmusik durchspielten Nacht kam Büttner die Idee zu seiner ersten Sinfonie F-Dur, in der sich schon ganz herrlich sein romantisch-schwärmerischer Ton kundtut, aber auch eine vom thematischen Material nicht gedeckte Überlänge. Sie wurde erst 1916, mit zwanzigjähriger Verspätung, unter Leitung des Komponisten von den Dresdner Philharmonikern uraufgeführt. Dann ging es Schlag auf Schlag; nur wenige Wochen später hob dasselbe Orchester die zweite Sinfonie G-Dur aus der Taufe; geschlossener in der Form, ausgefeilt in der kontrapunktischen Durchdringung, von treibender rhythmischer Energie, betörend durch den warmen Schmelzklang der Instrumente und noch mehr durch ihre reiche Polyphonie, die das halb sehnsuchtsvolle, halb überschwängliche Hauptthema unvergesslich macht – ein Werk ersten Ranges, nur leider in keiner Weise innovativ, es sei denn, man betrachtet die „Lebensseligkeit“ des Büttnerschen Ausdruckscharakters, von der damals ein Kritiker sprach, als etwas Neues. Die von ihm angewandten Verfahren freilich sind alte Schule, geradezu eine Definition des klassischen deutschen Stils. Ihm folgt auch die 1919 uraufgeführte vierte Sinfonie h-Moll, sein Meisterwerk.
Warum es plötzlich so schnell ging? Weil Artur Nikisch, der bedeutendste Dirigent jener Epoche, 1915 im Leipziger Gewandhaus für die Uraufführung der dritten Sinfonie Des-Dur gesorgt hatte. Büttner fand endlich Anerkennung als großer Sinfoniker, quasi über Nacht – aber nur in Sachsen. Nikisch nahm fatalerweise die Dritte nicht mit in die deutsche Hauptstadt; die Berliner Philharmoniker haben ebenso wie die Wiener nie eine Sinfonie von Büttner gespielt. Aber im Oktober 1917 durfte er, auf Einladung von Richard Strauss, seine Dritte mit der Staatskapelle Berlin zu Gehör bringen.
Trotz hymnischer Kritiken konnte sich Büttner in Berlin nicht etablieren. Umso mehr glänzte er in Sachsen. Die Liste der Dresdner Aufführungen ist beachtlich, und es sind im Laufe der Jahre auch einige Granden für ihn aufs Podest gestiegen: Fritz Busch (Sinfonie Nr. 2, 1932), Joseph Keilberth (Nr. 2 und 3, 1945), Kurt Masur (Nr. 4, 1956). Seine Musik überlebte sogar den brutalen Einschnitt des Jahres 1933.
Dass sie überhaupt auf die Liste unerwünschter Kunst geriet, hatte mit Büttners Schaffen an sich nichts zu tun. Alles andere als ein Umstürzler, ging er mit keinem Takt über Strauss hinaus. Was die Inhalte betrifft, sind Ansätze einer engagierten, sozialkritischen Tendenz nicht erkennbar. Seine Bühnenwerke, Lieder und Chorstücke folgen dem bürgerlichen Bildungskanon der damaligen Zeit. Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten wäre es den neuen Herren unschwer möglich gewesen, ihn zu vereinnahmen. Und es wurde ja auch versucht.
Seinen Lehrer Felix Draeseke (1835-1913), Autor der einst oft gespielten Sinfonia Tragica, feierte die nazistische Musikpublizistik als arischen Großmeister. Erich Roeder hatte 1932 ein Buch über den Lebens- und Leidensweg Draesekes veröffentlicht, 1936 folgte sein Aufsatz Felix Draeseke als Judengegner. Naheliegend, dass Roeder auch Büttner, mit dem er auf vertrautem Fuße stand, in einen deutschnationalen Helden verwandelte. So war es möglich, dass er noch 1940 die während des Ersten Weltkriegs entstandene vierte Sinfonie Büttners in einen zweifelhaften ideologischen Kontext stellen konnte. In einem Musikfachblatt der Wehrmacht rühmte er an dem Werk „eherne deutsche Marschmusik“ und den Widerhall von Volks- und Soldatenliedern. Das ist eine skandalöse Verdrehung. Der Musikwissenschaftler Hans John kam der Wahrheit näher, als er in einem Vortrag 1993, anlässlich des 50. Todestages von Büttner, den Finalsatz mit dem fugierten Luther-Choral als „Marseillaise des Bauernkrieges“ deutete.
Auch die Heroische Ouvertüre ist gänzlich ungeeignet, aus Büttner einen Sympathisanten der Nazis oder auch nur Opportunisten zu machen; sie wurde bereits 1927 uraufgeführt und zitiert das von Weber vertonte Gedicht über Lützows wilde verwegene Jagd. Dieser preußische Generalmajor erlangte als Führer eines gegen Napoleon kämpfenden Freikorps fast mythischen Ruhm, die Farben seines Verbandes bilden seit 1918 und bis heute die Nationalflagge der deutschen Republik: schwarz eingefärbtes Uniformtuch, rote Litzen, goldene Knöpfe. Bei der Heroischen Ouvertüre handelt es sich demnach um ein patriotisches Stück und nicht, wie Fred K. Prieberg in seinem 1982 erschienenen Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945 mittels eines absurden Hitler-Zitats unterstellt, um einen „NS-Titel“. Prieberg war dem Irrtum aufgesessen, die Ouvertüre sei 1934 entstanden, und glaubte, in der DDR habe man dann durch Verweis auf das Lützowsche Freiheitslied das Werk und damit Büttners Schaffen in toto für den Sozialismus ertüchtigen wollen.
Zutreffend ist allein, dass Büttner in Dresden, Leipzig und Ost-Berlin zu einer Art Stammvater oder Ahnherrn der DDR-Sinfonik aufgebaut werden sollte – die durchaus bedeutend, aber ebenfalls schon wieder vergessen ist. Büttner jedoch teilte letztlich das Schicksal seiner Generation; nach 1970 ist das Interesse an ihm auch im Osten eingeschlafen. Allerdings zeichnet sich inzwischen eine Wiederentdeckung ab: Einige Werke sind auf CD erschienen, und der Münchener Verlag Repertoire Explorer hat zwölf Partituren herausgegeben, darunter die Sinfonien 2, 3 und 4. Ein Anfang ist also gemacht. Jetzt müssen nur noch unsere Dirigenten, Agenten und Intendanten aufwachen.
Volker Tarnow
Erschienen im Klassik-Winter 2023