Ein Tonpoet sondergleichen

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Vor 200 Jahren wurde der bedeutende Symphoniker Joseph Joachim Raff geboren

Wie das Licht eines längst erloschenen Sterns, so kündet die Cavatine As-Dur von ihrem Urheber, dem Komponisten Joseph Joachim Raff. In der Zeit schlimmster Verdunklung, zwischen 1920 und 1950, als der Name Raff endgültig ein schwarzes Loch zu werden drohte, hielt sie allein die Erinnerung an diesen originellen Meister wach – eine fragmentarische Erinnerung allerdings. Denn der deutsch-schweizerische Tonsetzer rangierte mit seinen Symphonien einst neben Schumann und Brahms – und zwar weltweit.


Joseph Joachim Raff, geboren am 27.5.1822 in Lachen am Zürichsee, gestorben am 24.6.1882 in Frankfurt/Main

Die Wiener Philharmoniker leisteten 1863 unter Joseph Hellmesberger die Uraufführung der ersten Symphonie D-Dur. 1871 spielten sie die dritte Symphonie Im Walde … nein, sie spielten sie nicht im Walde, sondern das so getaufte Werk natürlich im Musikvereinssaal, es dirigierte der langjährige Abonnementsleiter des Orchesters Otto Dessoff, ein jüdischer Dirigent aus Leipzig. Raff zählte zu seinen Künstlerfreunden viele Juden, was ihm von Nationalidioten oft vorgeworfen wurde. Weitere Wiener Höhepunkte waren 1880 die Aufführung dieser dritten Symphonie durch Hans Richter und 1924 – sein letztes Erscheinen im Programmkalender – durch Felix Weingartner, zwei Koryphäen ihrer Zunft. Im Leipziger Gewandhaus genoss er schon seit 1858 einen Stammplatz, dirigierte im Laufe der Jahre dort seine zweite, vierte und fünfte Symphonie, der Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke trat mit der Dritten, Fünften und Siebten hervor und Arthur Nikisch ab 1897 mehrmals mit der Wald-Symphonie. Das letzte Mal erklang Raff in Leipzig 1922.

Das Königliche Opernhaus in Berlin hob 1874 die sechste Symphonie d-Moll aus der Taufe. Sein größter Förderer in der Hauptstadt war anfangs Benjamin Bilse, Gründer des gleichnamigen Orchesters, das täglich im Concerthaus am Dönhoffplatz auftrat. Aus diesem Orchester gingen 1882 die Berliner Philharmoniker hervor, die sofort die zehnte Symphonie Zur Herbstzeit programmierten. Die Jahre seines größten Ruhms sollte Raff nicht mehr erleben: Hans von Bülow machte ab 1887 Furore als philharmonischer Chefdirigent in Berlin und führte dort regelmäßig Werke seines langjährigen, besten Freundes auf. Bekannt als Zuchtmeister, der mit militärischer Disziplin die Symphonien Beethovens zu proben und zu exerzieren pflegte, sprach ihn bei Raff mehr der poetische Zauber an, die Szenerie mit stillen Seen und einsamen Herbergen, mit Elfen und Gnomen à la Mendelssohn, was symphonische Auftritte von Frau Holle und Wotan nicht ausschloss. 1914 ging das Interesse an solcher Musik schlagartig zurück, Raff erschien nach 1915 nicht mehr auf dem Spielplan der Berliner Philharmoniker.

Das New York Philharmonic hielt länger durch, sogar noch nach dem Kriegseintritt der USA 1917. Seit 1872 waren in Amerikas größter Stadt regelmäßig Raffs Symphonien erklungen. Den Schlusspunkt setzte erstaunlich spät und erstaunlicherweise kein Geringerer als Arturo Toscanini 1931 mit der Wald-Symphonie. Das 1881 gegründete Boston Symphony Orchestra übertraf die in New York erreichte Frequenz bei Weitem. Und Russland? Hier meinte Tschaikowsky, im Vergleich zu Brahms sei „Raff ein Gigant“. Das schoss sicherlich übers Ziel hinaus, aber ein Wald- und Wiesenkomponist war Raff keineswegs – trotz heimatlicher Charakterstücke Von der schwäbischen Alb, trotz seiner Schweizerweisen für Klavier und der B-Dur-Symphonie In den Alpen, seiner siebten.

Er beherrschte Satztechnik, Fugenkunst und Kontrapunkt wie wenige Zeitgenossen, seine häufig gerühmte Instrumentation klingt angenehm transparent, Bülow nannte sie sogar koloristisch. Seine Klavierwerke leiden unter zu vielen Figurationen, seine Kammermusik erreicht nie wirklich höchste Höhen. Aber Dame Kobold nach Caldéron ist eine lebensfähige, köstliche Komödie, wie das Theater Regensburg unlängst bewies. Und seine Symphonien können noch heute Menschen faszinieren, die es nicht unbedingt heroisch-tragisch brauchen. Ihre Wirkung beruht vorrangig auf markanten, überwältigend schönen und diatonischen, also in Ganztönen voranschreitenden Themen. Mit Wagners Chromatik stand er auf Kriegsfuß.

Raff verdankte kompositorisch viel seinem ersten Förderer Mendelssohn, blieb der poetischen Romantik anno 1830 treu. Seine Tätigkeit als Privatsekretär bei Franz Liszt in Weimar änderte nichts an dieser Orientierung; die Zukunftsmusiker um Liszt, Wagner und Berlioz, denen man die Bezeichnung „neudeutsche Schule“ anhängte, stießen beim altfränkisch angehauchten Kollegen auf wenig Verständnis. Zwar entstanden in ihrem Kreis auch Programmsymphonien, wie sie später zum Kennzeichen Raffs werden sollten, aber diese Tondichtungen folgten, formal eher freizügig, ausschließlich literarischen Vorlagen. Bei Raff ist das nur einmal der Fall, nämlich in seiner fünften Symphonie nach Gottfried August Bürgers melodramatischer Ballade Lenore; gewöhnlich vertonte er Jahreszeiten, Landschaftsbilder, volkstümliche Sagen. Er war auch in Grundsatzfragen des kompositorischen Handwerks mit den Progressiven über Kreuz. Sein knapp dreihundertseitiges, noch heute gut lesbares Buch Die Wagnerfrage führte 1854 zum Bruch mit Weimar. Mehr noch als der inhaltliche Widerspruch kostete ihn sein überheblicher Tonfall viele Sympathien. Wagner rächte sich später, indem er Raff einen „ungemein trockenen, nüchternen, auf seinen Verstand eingebildeten und doch dabei ohne allen weiten Blick sich behelfenden Menschen“ nannte, der auch noch glaube, „durch freundliche Ermahnungen mich hofmeistern zu dürfen.“

Tatsächlich trat Raff stets ziemlich schroff auf. Er ertrug keine Autorität über sich, konnte sich keiner Gruppe einfügen. Die Eigensinnigkeit machte ihn produktiv; erst im Konflikt mit Weimar entwickelte er seinen ganz persönlichen Stil. An der Spitze des Fortschritts ist Raff nie marschiert. Mit dem Marschieren hatte er es ohnehin nicht so. Selbst die bewegenden Jahre 1870/71 führten bei ihm, der seine erste Symphonie zehn Jahre zuvor An das Vaterland adressiert hatte, nicht zu patriotischer Hirnerweichung; er litt Tantalusqualen, als man ihn zum Preisrichter eines Wettbewerbs berief, in dem Bismarck-Kantaten, eine öder als die andere, beurteilt werden sollten. In Lachen am Zürichsee geboren, sich aber aufgrund seiner Vorfahren als Schwabe fühlend, weckte das neue Deutsche Reich wenig Entzücken bei ihm. Der Schwindel der Gründerzeit empörte ihn, ebenso Bismarcks Kulturkampf gegen die katholische Kirche. Empörte ihn aus Prinzip, nicht weil er seine religiösen Gefühle verletzt sah. Wirklich gläubig war der ehemalige Jesuitenschüler nicht; an Kirchen gefiel ihm vor allem der Glockenklang.

Raffs Dasein ließ auch sonst die üblichen bürgerlichen Merkmale vermissen. Er konnte mit Geld nicht umgehen, machte einmal sogar Bankrott. Seine Frau Emilie Genast, Schauspielerin am Wiesbadener Hoftheater, brachte ihn in die Spur, sodass er 1875 endlich schuldenfrei war. Sie sorgte für häusliche Ordnung und befreite den Mann von allen organisatorischen Pflichten; seine Tochter Helene verglich ihn mit dem Anti-Helden in Friedrich Theodor Vischer Roman Auch einer, dem sämtliche Gegenstände und Forderungen des Alltags feindliche Mächte bedeuteten. Die Finanzen blieben Raffs spezieller Feind, Verleger konnten ihn prima ausbeuten, an seinen landauf, landab gespielten Symphonien verdienten er keinen Heller, und noch als Gründungsdirektor des Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt rangierte er auf der Gehaltsliste deutlich unter dem Gesangslehrer des Instituts. An dem Haus entfesselte er en passant eine kleine Revolution, indem er eine „Mädchenklasse“ einrichtete, wo sich gleich zu Beginn 97 Frauen einschrieben, während nur 42 Männer am Mainquai unterrichtet wurden.

Überhaupt erwarb sich Joseph Joachim Raff einige historische Verdienste. Dazu gehört die Wiederentdeckung einer außer Mode gekommenen Gattung, der Suite, und die Erfindung der Sinfonietta. Seine wichtigste Tat aber ist die zwischen Programmmusik und abstrakt-absoluter Musik angesiedelte Symphonik. Schade, dass wir sie heute nur noch per Tonträger erleben können. Die Auswahl immerhin ist groß: Drei Gesamteinspielungen seiner Symphonien sind auf dem Markt und zehn Aufnahmen der Lenore-Symphonie, seines Meisterstücks. Die Gefahr, dass er völlig vergessen wird, ist demnach gering. Und notfalls gibt es ja noch die Cavatine As-Dur …

Volker Tarnow

Erschienen im Klassik-Herbst 2022

Raff: Symphonien Nr. 1-11

Bamberger Symphoniker,
Hans Stadelmair 1998-2004

Tudor