Alles im Übermaß

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Max Reger zum 150. Geburtstag

Der Fall Max Reger bleibt schwierig, auch zu seinem 150. Geburtstag am 19. März. Man zählt ihn zwar gern zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Doch seine Musik ist, abgesehen von Orgelkonzerten, selten zu hören. Und daran wird sich wohl auch nach diesem Jubiläumsjahr wenig ändern.

Es sei sein Verhängnis gewesen, zwischen zwei Zeitaltern leben zu müssen, meinte 1921 Paul Bekker in seiner sehr kritischen Würdigung Regers. Doch diese Erklärung greift zu kurz, wie ein Blick auf drei fast gleichaltrige Kollegen zeigt: Maurice Ravel (1875), Sergej Rachmaninow (1873) und Arnold Schönberg (*1874). Ihnen war zwar ein längeres Leben beschieden als Reger, der bereits mit 43 Jahren starb, aber auch 1916 wäre klar gewesen, dass diese drei anderen ihren eigenen Weg gefunden hatten: Rachmaninow in der Fortführung romantischer Tradition, Maurice Ravel in impressionistischen Klangwelten und Arnold Schönberg auf dem Weg in eine Musik jenseits der Dur-Moll-Tonalität.
Von Reger ist dagegen schwer zu sagen, wo er stand, wohin er gezählt werden soll. Die Vertreter der Zweiten Wiener Schule führten ihn zwar ganz selbstverständlich in ihren Konzerten auf, nur Schönbergs Musik war hier häufiger vertreten. Doch er war nicht nur Revolutionär und Umstürzler, mit seiner Rückbesinnung auf traditionelle Formen wie Fugen und Variationen, mit Kompositionen im „alten Stil“ war er gleichzeitig altmodisch. Um es mit dem Komponisten Volker Staub zu sagen: „Indem er wichtige Aspekte der musikalischen Entwicklung seiner Zeit außer Acht ließ und sich vergleichsweise stark an vergangenen Meistern orientierte, war er der erste postmoderne Komponist.“

Max Reger (1873-1916)

Sein musikalisches Erweckungserlebnis hatte Max Reger, wie so viele im ausgehenden 19. Jahrhundert, in Bayreuth. Mit 15 entdeckt er hier Wagners Meistersinger von Nürnberg und Parsifal und beschließt sogleich, die Musik zu seinem Beruf zu machen. Wobei man bedenken muss: Hier ist nicht nur die damals neueste und zugleich modischste Musik zu hören; Reger hat hier das erste Mal überhaupt die Gelegenheit, den Klang eines großen und guten Orchesters zu erleben. In Weiden in der Oberpfalz, wohin seine Eltern mit dem Einjährigen von seinem Geburtsort Brand aus gezogen sind, gibt es so etwas nicht. Musik aller Art muss hier in Klavierauszügen studiert werden. Für Regers Eltern ist der Berufswunsch des Sohns abwegig: Der Vater hat ihn für seine eigene Profession vorgesehen, die des Lehrers. Mithilfe einiger positiver Gutachten über eingesandte Jugendkompositionen (u.a. von Hugo Riemann) gelingt aber die Überzeugungsarbeit, und Reger darf mit 17 nach Sondershausen gehen, wo Riemann gerade am Konservatorium angefangen hat. Eine durchaus problematische Ortswahl: Aus dem katholischen Weiden ins protestantische Thüringen zu gehen, stößt in Regers Umfeld auf Misstrauen. Mit diesem Problem wird er es noch öfter zu tun bekommen, nicht nur bei seiner Hochzeit mit einer geschiedenen Protestantin, die zu seiner Exkommunikation führt. Auch seine Berufung nach Leipzig scheitert später beinahe an seiner Konfession. Als Riemann von Sondershausen nach Wiesbaden geht, folgt ihm Reger ans dortige Konservatorium, wo 1890 sein op. 1 entsteht, eine Violinsonate, die allerdings eine „abfällige Aufnahme“ beim Publikum findet, wie Reger selbst schreibt. „Macht nichts“, notiert er gleich darauf, ein weiteres wichtiges Motiv in seinem Leben: Auf Kritik an seiner Musik reagiert Reger mit – mehr Musik.
Bereits in Wiesbaden lernt er 1893 seine spätere Frau kennen – verliebt sich allerdings zunächst in ein anderes Mädchen. Für dessen Familie aber kommt ein mittelloser Musiker nicht infrage, der „täglich 6-8 Stunden geben“ muss „im Klavierverstümmeln“, wie Reger an seinen Kollegen Busoni schreibt. Auch sein Hang zum Alkohol, der ihn sein Leben lang begleitet, wird hier bereits deutlich. „Es wäre wirklich ein Jammer, wenn ein solches Talent an einer solch erbärmlichen Schwäche zugrunde ginge“, warnt die Frau seines Lehrer Hugo Riemann damals.

Zur Katastrophe wird Regers Wiesbadener Zeit, als er 1896/97 seinen Militärdienst ableisten muss – auf eigene Kosten! 1898 kehrt er pleite und krank zurück zu den Eltern. Das hätte schon das Ende einer kurzen Karriere sein können, doch Reger nutzt seine Heimkehr als verlorener Sohn zu dem, was sein eigentlicher Lebensinhalt ist: zum Komponieren. Er schreibt höllisch schwierige Klavierwerke, Orgel- und Kammermusik wie am Fließband. Sein unglaubliches Arbeitspensum hat er einige Jahre später so skizziert: Aufstehen um 7 Uhr, arbeiten von 8-13 Uhr und von 14-18.30 Uhr. Von 19.30-20.45 Uhr dann praktische Musikübung, von 21.30 Uhr bis Mitternacht wieder arbeiten. Erfolge stellen sich ein, Verleger werden gefunden, die Einnahmen nutzt Reger zum Begleichen der Schulden, die er in Wiesbaden angehäuft hat. Den Alkoholmissbrauch kann er für einige Zeit vermeiden, Unmengen an Nikotin konsumiert Reger aber weiter in Form von Zigarren. Immer exzessiv – anders kann er nicht. In dieser Zeit wird auch aus dem ehemals sehr schlanken Mann der, den wir von Bildern kennen. Im thüringischen Sonneberg soll er bei einem Ausflug einmal neun Bratwürste verzehrt haben.

Franz Nölken: Max Reger bei der Arbeit (1913)

Nach drei Jahren kann und muss Reger wieder weg aus der Provinz: Er zieht 1901 mit der ganzen Familie nach München, was allerdings auch nicht sein Pflaster wird. Bereits nach drei Monaten hat er erreicht, dass „man in Musikerkreisen erbärmlich über mich schimpft“. In München manifestiert sich ein Prinzip, das die gesamte Reger-Rezeption durchzieht: Hymnische Begeisterung oder schroffe Ablehnung – ein Dazwischen gibt es offenbar nicht. Größte Anerkennung erlebt er dabei von Anfang an in der Organistenzunft. Hier findet er im gleichaltrigen Orgel-Erneuer und Thomaskantor Karl Straube einen wichtigen Förderer, wird gar als „Orgeltitan“ und „Neuer Bach“ verstanden. Bald wird sein Name in der gesamten Musikszene bekannter, und in immer mehr Städten finden speziell seiner Musik gewidmete Konzerte statt, was zu den ausgedehnten Reisen führt, die Regers weitere Karriere kennzeichnen. Sie sind so anstrengend, dass sein Verleger ihm 1907 10.000 Mark anbietet, wenn er für ein Jahr weitgehend auf Konzerte verzichtet! Denn zum Komponieren bleibt bei all den Konzerten zu wenig Zeit – auf seinen Tourneen spielt Reger täglich.
1907 wird Reger Universitätsmusikdirektor und Kompositionslehrer in Leipzig. An welchem Ort könnte er besser aufgehoben sein als in der Bachstadt? Doch auch hier will er nach vier Jahren nur noch weg – und belegt mit seiner letzten Station noch einmal eine Position zwischen allen Stühlen: Er wird 1911 Hofkapellmeister in Meiningen. Ein letzter Nachklang alter Zeiten – die Hofkapelle wird 1915 nach dem Tod Herzog Georgs II. aufgelöst, und Reger, der aus gesundheitlichen Gründen schon 1914 seinen Abschied genommen hat, organisiert sogleich Benefizkonzerte für die nun arbeitslosen Musiker der Kapelle. Er selbst ist in die Universitätsstadt Jena gezogen, wo er zu einem neuen „freien, jenaischen Stil“ finden will. Viel Zeit bleibt ihm dafür nicht mehr: Am 11. Mai 1916 stirbt Reger in Leipzig.
An den zukünftigen Erfolg seiner Musik hat Reger bis zum Schluss fest geglaubt: „In zehn Jahren ist mein Violinkonzert populär, d.h. jeder anständige Geiger muss es spielen“,
schreibt er 1909. Stattdessen verschwindet seine Musik bald nach seinem Tod von den Programmzetteln, obwohl sich immer wieder prominente Fürsprecher finden. Zu seinem 100. Geburtstag 1973 etwa beklagt Eugen Jochum, er würde gerne mehr Reger aufnehmen, aber die Produzenten seien nicht interessiert. Das immerhin hat sich zum Glück geändert: Auf CD ist Regers gesamtes Werk gut zugänglich. Und zu entdecken gibt es da genug: Man höre nur das unvollendete Requiem, das Reger nach Kyrie und Dies irae leider abbrach und das heute noch staunen lässt.

Klemens Hippel

Erschienen im Klassik-Frühling 2023