Von Caracas nach Coswig

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Teresa Carreño war die berühmteste Pianistin ihrer Zeit – und eine feinsinnige Komponistin

Mütterlicherseits stammte Teresa aus einer alteingesessenen aristokratischen Familie. Der Großvater väterlicherseits war Domkapellmeister und Komponist, der Vater arbeitete als Rechtsanwalt und gab ihr den ersten Unterricht am Klavier. Teresas Talent wurde schnell offensichtlich. Dass eine Sechsjährige eine Opern-Transkription des Virtuosen Sigismund Thalberg in fünf Tagen auswendig lernte, wie berichtet wurde, war sogar ein nationales Ereignis.

Teresa wurde nach New York zu den besten Professoren geschickt. Als sie Louis Moreau Gottschalk vorspielen darf, ist sie von dem berühmten Komponisten derart begeistert, dass sie auch Komponistin werden will. Der Vater, inzwischen Diplomat – kurzzeitig ist er sogar Außenminister –, verliert sein Vermögen, und so zieht man nach Paris, ins Mekka der Klavierpädagogen. Von einem raschen Aufstieg des Wunderkindes hofft der Vater wirtschaftlich zu profitieren. Die kleine Teresa darf Rossini vorspielen, Franz Liszt soll ihr die Hände auf die Schultern gelegt und gesagt haben: „Gott hat dir wohl das größte Geschenk gemacht, die Genialität.“ Liszts Angebot, Teresa in Rom zu unterrichten, lehnt der Vater jedoch ab.
Bald beginnt eine Karriere, die sie um die halbe Welt führt. Sie heiratet einen französischen Komponisten und Geiger, doch obwohl sie beruflich zurücksteckt, scheitert die Ehe. Teresa beginnt wieder zu reisen. Mit ihrem nächsten Ehemann, einem italienischen Bariton, stellt sie in Caracas eine kleine Operncompagnie auf die Beine, in der sie von der Auswahl der Sänger über die musikalische Einstudierung und Leitung bis zum Management alles selbst in die Hand nimmt. Doch auch das erfüllt sie nicht auf Dauer. Die Ehe scheitert, Teresa kehrt nach Europa zurück und beginnt wieder zu konzertieren. In Berlin wird sie von der wichtigsten Konzertagentur unter Vertrag genommen. Star der Agentur Hermann Wolf ist Eugen D’Albert, der berühmteste Pianist der Zeit. Er wird, obwohl elf Jahre jünger und einen Kopf kleiner, Teresas dritter Ehemann. Man lebt in Coswig bei Dresden, wo heute in der „Villa Teresa“ ein Museumsraum an das prominente Paar erinnert.

Teresa Carreño, geboren am 22. Dezember 1853 in Caracas, gestorben am 12. (oder 13.) Juni 1917 in New York

Doch wie soll das gehen? Eine internationale Konzertkarriere und gleichzeitig eine Schar von Kindern, darunter zwei aus ihrer zweiten Ehe und zwei gemeinsame, erziehen, während der Gatte im Komponierhäuschen am Ende des Gartens eine Oper nach der anderen schreibt? Nach drei Jahren folgt die dritte Scheidung
Teresa Carreño, inzwischen Anfang 40, zieht nach Berlin an den Kurfürstendamm. Sie nimmt sich mehr Zeit zum Komponieren, findet in ihrem vierten Mann, einem Nicht-Musiker, endlich einen Vertrauten bis ans Lebensende, und auch ihre Konzerttätigkeit nimmt noch einmal Fahrt auf. Neben der Münchnerin Sophie Menter gilt sie als die bedeutendste Pianistin ihrer Zeit. Arthur Rubinstein schreibt in seinen Erinnerungen: „Auch andere Künstler beeindruckten mich sehr – so die walkürengleiche Teresa Carreño, die das Klavierkonzert von Tschaikowski mit dem Elan und der Kraft zweier Männer hinlegte.“

Doch irgendwann lassen die Kräfte nach. Teresas Gesundheitszustand verschlechtert sich, aber statt sich zu schonen, entscheidet sie sich, auch um ihre Kinder und deren Familien finanziell zu unterstützen, zu einer Konzertreise nach Kuba. Zurück in New York stirbt Teresa Carreño am 12. (oder 13.) Juni 1917.
Wie spielte nun die „Walküre“? Glücklicherweise werden mehr und mehr Welte-Mignon-Rollen, u. a. aus dem Salon Hupfeld, Leipzig (mehrheitlich aus den Jahren 1905-10), digitalisiert. Den folgenden Beobachtungen liegen die im Internet zugänglichen Aufnahmen zugrunde.
Wie in der Zeit der Titanen üblich, spielt Teresa Carreño frei, aus unserer Sicht sehr frei. Sie versucht nicht, dem niedergelegten Willen des Komponisten gerecht zu werden. Sie baut quasi die Komposition „spielend“ zu ihrem eigenen Werk um, formt sie ganz nach ihrem Willen. In ihrer Aufnahme von Chopins Ballade in As-Dur macht sie schlichtweg, was sie will. Das Thema spielt sie emotionslos gerade herunter, im Folgenden weicht alles Gesangliche einer giftigen Härte. Liegt ihr womöglich der feingliedrige Chopin gar nicht, der angeblich selbst nie forte spielte? Allerdings berichtet die Pianistin Marta Milinowski, die sonst so Nervenstarke sei bei den Aufnahmen „nervös und verunsichert durch die Technik“ gewesen. Manches ist recht ungenau, dann wieder blitzt ein unbeschreiblich virtuoser Lauf auf, und es beginnt ein Erdbeben an Virtuosität in höchster Perfektion.
In Chopins Ballade g-Moll sind wir erneut gefordert, das überzogen Charakteristische ihres Spiels zu verstehen. Ist der erste Abschnitt wirklich als Unterhaltungswalzer gemeint? Wir müssen erkennen, dass dieser genialen Künstlerin mit stilistischen Überlegungen nicht beizukommen ist, übersetzt sie doch jedes Werk in ihr eigenes Hören. Lassen wir uns aber darauf ein, erleben wir eine Übervirtuosin, die uns mit ihrer Kraft, ihrer unbegreiflichen Schnelligkeit und ihrer pianistischen Wucht in ihren Bann zieht.
Und Beethoven? Im ersten Satz der Waldstein-Sonate spielt sie offene Akkordbrechungen ultraschnell, Strukturelles dagegen überraschend ruhig. Wenn sich die Musik steigernd bewegt, zieht sie das Tempo atemberaubend an, als ginge es bereits auf die Schlusstakte zu. Das, was sie für sich zur Verzierung erklärt, spielt sie dann auch flüchtig, selbst wenn es um ein thematisch wichtiges Modul geht. Ganze Dialoge konstruiert sie um, wie man es in diesem Stück nie gehört hat. Großartig, wie sie mehrere Takte zu einer einzigen Geste zusammenfasst, um sie dann als rauschende Illustration zu präsentieren!
Wer sich von unserem Beethoven-Denken frei macht und diese Waldstein-Sonate einfach wie eine sinfonische Dichtung hört, erlebt ein Wunder. Wir hören Blitze, Donner und Stürme. Die virtuose Seite des Spiels ist schlicht unfassbar. Sollte Beethoven so gedacht haben, dann ist diese Musik etwas ganz anderes, als was wir heute unter „Beethoven“ verstehen. Niemand hat da mehr gewagt als Teresa Carreño. Aber ist das alles, was der Wiener Meister gedacht und gewollt hat? Wohl nicht!
In Liszts Petrarca-Sonett Pace non trovo löst sie die typischen „ungarischen Punktierungen“ aus dem Zusammenhang, übertreibt sie bis zur Groteske und erlaubt sich in der Einleitung noch einen Coup, indem sie bis fast zum Stehenbleiben retardiert. Alles scheint improvisiert. Bereits das Thema kommt mit einer ultraschnellen Leichtigkeit, wie sie von des Meisters eigenem Spiel überliefert ist. Dann war das wohl die allgemeine Auffassung der Zeit, sagen wir uns.
Doch wann spielt die Carreño eigentlich schön, fein und stilvoll? Dann, wenn sie ihre eigenen Werke zelebriert. Berühmt wurde ihr Walzer Mi Teresita (für ihre Tochter geschrieben), den sie mit himmlischer Raffinesse spielt, mit Zwischenstimmen und stets neuen Ideen. Atemberaubend der Gottschalk-Waltz Nr. 1 mit seinen Girlanden. Die Ballade op. 15 beginnt zunächst schlicht „walzerig“, dann folgt eine fortwährende Steigerung mit immer neuen Gedanken. Warum nur spielt sie ihre eigenen Kompositionen trotz sich stets zum Ende hin steigernder Virtuosität so feingliedrig und elegant?
Carreños Klavierkompositionen ist eines gemein: Sie enthalten kaum eine erkennbare Mehrstimmigkeit. In der linken Hand bildet fast immer der typische akkordische Walzerrhythmus die Grundlage, auf der die rechte Hand die Gedanken des Werkes entwickelt. Teresa Carreño bleibt auch hier ein Kind des Virtuosen-Jahrhunderts. Doch heimlich hat sie schon den Salon der 1920er-Jahre in ihr Werk hineingelassen, über dessen einfache Gedanken sie dann hochkomplex fantasiert. Es drängt sich dem Hörer ihrer selbst gespielten Kompositionen der Gedanke auf, nur hier dem Menschen Teresa Carreño zu begegnen, mit all seinem feinsinnigen Ernst, der selbst durch jeden noch so simplen Walzer, jedes noch so glitzernde Capriccio schimmert. Es empfiehlt sich, beide Künstlerinnen zu entdecken.

Cord Garben