Vom Mut, Musik jenseits des Zeitgeists zu schreiben

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Zur Ersteinspielung von Martin Scherbers „Zodiak-Symphonie“

Im Januar ist beim Label Aldilà eine Doppel-CD mit Martin Scherbers Symphonie Nr. 3 erschienen – mit dem Mitschnitt der Uraufführung 2019 und einer anschließenden Studioaufnahme. Hier berichtet der Dirigent Christoph Schlüren, wie er den Komponisten Martin Scherber entdeckte und was ihn an dieser Musik so fesselt.

An die Verlässlichkeit des etablierten Kanons der großen Künstler und Kunstwerke habe ich nie geglaubt. Früh erfuhr ich, dass es große Dinge gibt, die keiner kennt. Schon während meines Studiums in den 1980er und 1990er Jahren suchte ich in jeder Stadt, durch die ich durch kam, die Antiquariate – ja, da gab’s die noch überall – und Musikaliengeschäfte auf, um all das zu entdecken, was durch das Raster der fachlichen und medialen Aufmerksamkeit gefallen war.

So stieß ich 1996, wenige Monate vor dem Tode meines Lehrers Sergiu Celibidache, in München auf die drei solide in schwarzem Kunstleder eingebundenen Symphonien des Nürnberger Komponisten Martin Scherber; mit schwarzem Eddingstift war so lieblos wie unzureichend der Name des Vorbesitzers, einer öffentlichen Musikinstitution, ausgetilgt worden. Offenkundig gigantisch konzipierte Werke nahmen vor meinem inneren Ohr schemenhaft Gestalt an – in absolut reiner Tonalität, harmonisch aus der Tradition Anton Bruckners und Richard Wagners gewachsen und doch ganz neu in der großen Form wie in der Behandlung der kleinen Zelle. Ein mutiger, vollkommen autonom schaffender Komponist ohne Konzessionen an den Zeitgeist teilte sich mir mit, sind doch die Symphonien Nr. 2 und 3 in der ersten Hälfte der 1950er Jahre entstanden – was das bedeutet, unter welchem Druck die Schaffenden damals standen, kann man sich kaum noch vorstellen. Die Weichenstellung in die neue Zeit nach der Stunde Null war vorgegeben, sozusagen auf höheres Kommando, mit der von Arnold Schönberg gepredigten „Dodekaphonie“ (der Methode der Komposition mit zwölf Tönen, die basisdemokratisch gleichberechtigt behandelt werden sollten) als technokratischer Patenschaft – und die simple Aufforderung lautete: Bist du dabei oder nicht? Stehst du auf der „richtigen Seite“ der Geschichte oder wirst du dich einlassen auf den Beifall von der „falschen Seite“, die Deutschland und Europa, mithin auch die ganze abendländische Kultur, in den Abgrund von Hetze, Mord und Faschismus gezogen hat?

Die „Zwölftonmethode“ war ein idealer Ausweg aus dem Dilemma, denn durch sie wurde das trennende Potential der identitätsstiftenden nationalen Stile ausgehebelt. Ein Kunstgriff, der dazu beitragen konnte, aus verfeindeten Ländern ein einheitliches Europa aufzubauen, in dem das westliche Deutschland vom unberechenbaren, zu jedem Vernichtungsinferno bereiten Störenfried zur Trutzburg des Wertewestens – mit dem Stachel Berlin im Fleisch der definierten Feindesmacht – gegen den Weltherrschaftsanspruch des sowjetischen Kommunismus umgewandelt wurde. Ein ideologischer Kunstgriff allerdings auf Kosten der Kunstfreiheit: Denn wer sich nicht anpasste, dessen Stimme fand im Mainstream auch keinen Widerhall mehr. Wie die Pilze schossen die von Politik und Medien geförderten Zentren der radikalen „Avantgarde“ aus dem Boden: Darmstadt, Donaueschingen, Witten, die Münchner „musica viva“ usw. 

Der Nachholbedarf war einerseits groß nach der selbstverordneten antimodernen und antisemitischen Isolation des Dritten Reichs; andererseits wollte niemand als Reaktionär diffamiert werden, und so waren es vor allem die deutschen, französischen und italienischen Komponisten der sogenannten „verlorenen Generation“ (deren Lebensgang durch zwei Weltkriege unterbrochen worden war), von denen nur diejenigen noch Karriere machen konnten, die nun sozusagen zwölftönige „Flagge zeigten“ wie Luigi Dallapiccola, Olivier Messiaen und Wolfgang Fortner. Ob sie die Methode streng befolgten, spielte keine Rolle – Hauptsache, sie waren dabei und bekannten sich zur „Atonalität“. Nur die Emigranten, die sich rechtzeitig vor dem Krieg durchgesetzt hatten wie Hindemith, wurden noch vorwurfsvoll toleriert. Wer der „Tonalität“ abschwor, hatte den Freifahrtschein in die Zukunft erworben, und bald taten sich mit Serialismus (strikte Durchregulierung aller Parameter), Aleatorik (Aufhebung des rhythmischen Zusammenspiels) und Fluxus (alles kann Kunst sein, Hauptsache es hat sich von der Tradition losgesagt) zusätzliche Spielfelder auf. Die neue Vielfalt hatte nur eine Bedingung: die Ablehnung der Vergangenheit, die nur in verfremdeter Form, sozusagen als unzeitgemäßes Exponat, bruchstückweise wieder Einzug halten durfte. 

All das muss man verstehen, will man ermessen, welch eines künstlerischen Rückgrats es bedurfte, in dieser Situation eine symphonisch organische, aus der Tradition gewachsene, lebendig zusammenhängende Musik zu schreiben. Und damit ist keineswegs gemeint, eine „rückwärtsgewandte“ Leier auszupacken – das war ja auch in den vorhergehenden Epochen verpönt gewesen. Neu war der völlige Bruch mit der Geschichte, als Zäsur durchaus vergleichbar mit dem gesellschaftlichen Radikalumbau der Kommunisten. Wieviel Entschlossenheit und Selbstbewusstsein brauchte es, um die Ächtung hinzunehmen und nicht „auch einer“ zu sein!

Die Symphonie als Lebensreise der Seele

Am 10. Januar 1974, vor fünfzig Jahren, starb Martin Scherber in seiner Heimatstadt Nürnberg. Er war ein jenseits der Stadtgrenzen unbekannter Komponist, der fast zwei Jahrzehnte zuvor seine dritte und letzte Symphonie vollendet und vergeblich in der Hoffnung gelebt hatte, dieses Werk, in dem alles in konzentriertester Form zusammengefasst ist, endlich einmal zu hören. Alle drei Symphonien Scherbers sind einsätzig, und die zwei letzten sind nach der Idee der Metamorphose aus einer einzigen thematischen Keimzelle (einem „Urmotiv“) entwickelt. Diese „Monothematik“ ist dennoch vielfältiger, als man denken könnte. 

Sie ist genauso zu verstehen wie in Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“, allerdings mit zwei Unterschieden: Bei Scherber ist alles in einem ununterbrochen zusammenhängenden Satz verwoben, und es kommen keine Fugen vor. Aber alle melodischen, harmonischen und rhythmischen Bildungen, die sich aus dem Thema ableiten und aus seinen Gegenstimmen ergeben, sind Teil des Spektrums dieser Zelle, aus der heraus die Metamorphose entfaltet wird – sozusagen wie in der Natur, ganz im Sinne Goethes und Rudolf Steiners. In den 1920er Jahren, als Scherber an der Münchner Akademie der Tonkunst bei dem feinen Kontrapunktiker Gustav Geierhaas (auch er ein zu Entdeckender!) studierte, fand Scherber im kulturellen Trümmerhaufen der Zwischenkriegszeit spirituellen Halt bei Rudolf Steiner und inhalierte dessen Ideengut der Anthroposophie. Es gehört jedoch zu Scherbers Tragik, dass er ein zu großer Fisch im recht überschaubaren Teich anthroposophischer Musikbetätigung war und dass man auch hier lieber am Neuaufbau der Gesellschaft, wie er sich abzeichnete, Verdienste erwarb, als radikal individuelle Lösungen zu goutieren. So blieb er auch hier, wo er vielleicht eine künstlerische Heimat hätte finden können, ein Außenseiter, ein Unverstandener. Nur der bedeutende, heute kaum bekannte Dirigent Fred Thürmer, bis 1949 Assistent von Celibidache in Berlin, verstand intuitiv Scherbers Größe und Einmaligkeit und leitete die Uraufführungen seiner ersten beiden Symphonien. Die Zweite erklang nur einmal, für die Dritte ließ sich bis zum Schluss kein geeignetes Orchester finden, denn Thürmer leitete dann ein Kammerorchester in Krefeld, das zu klein besetzt war. Übrigens endete Thürmers Leben auf tragische Weise. Er hatte sich als homosexuell geoutet, worauf seine Karriere abrupt endete, und verbrannte 1983 in seinem Haus. Es gibt also keinen Nachlass von ihm.

Auch Scherbers Leben nahm zum Ende eine tragische Wende. Während eines Spaziergangs wurde er im Mai 1970 von einem betrunkenen Autofahrer erfasst und lebte unter schrecklichen Schmerzen noch dreieinhalb Jahre, bis er an den Unfallfolgen starb. Ich hatte das Glück, einen seiner letzten Klavierschüler kennenzulernen, den pensionierten Lehrer und Chorleiter Friedemann Grau, in dessen Besitz vor einigen Jahren der erhaltene Nachlass Scherbers übergegangen war. Herr Grau hat in großzügigster Weise unsere Uraufführung und Neueinspielung der dritten Symphonie finanziert und auch eine noch ausstehende Neueinspielung der zweiten Symphonie sowie die soeben abgeschlossene Erstaufnahme der ABC-Stücke für Klavier, eines Zyklus von 31 vielgestaltigen Miniaturen, durch Ottavia Maria Maceratini. Er hat wie wenige verstanden, dass die Musik seines Lehrers als seelische Grundrichtung stets in die Tiefe ging, unablässig vordringend zum Wesentlichen, alles aus der einen Urzelle zu dem einen großen Ganzen formend und darin nicht weniger radikal als die „Avantgardisten“ in ihrer Ablehnung des organisch Zusammenhängenden. Friedemann Grau, als beispielhafter Kulturmäzen so idealistisch wie selbstlos, ist nach schwerer Krankheit am Tag vor der Verfassung dieser Zeilen verstorben. Der tiefe Wunsch, diese Musik endlich so zu hören, wie sie ihm vorschwebte, hatte ihm die Kraft gegeben, überhaupt noch ein Jahr zu leben. Nach seiner Operation geleitete ihn die Konzertaufnahme der dritten Symphonie durch die schwerste Zeit, sie gab ihm Halt und Zuversicht.

Diese dritte Symphonie ist zwölfteilig, die Abschnitte entsprechen den Zeichen des Zodiaks, den Tierkreiszeichen. Das ist nicht unbedingt konkret astrologisch zu verstehen, sondern vielmehr als ein Zyklus, der in verwandelter Form zu seinem Ursprung zurückkehrt, und als symbolische Darstellung der Lebensjahrsiebte von der Geburt bis zum 84. Lebensjahr in der mystisch überlieferten Weise, wie Rudolf Steiner sie kommentiert hat. Das „Urmotiv“ entspricht darin sozusagen dem Seelen-Kern, der sich auf die Lebensreise begibt und dabei verschiedene Stadien seiner Entwicklung durchläuft, um schließlich die Erfahrung der Transzendenz seiner selbst zu machen. Am besten hört man zuerst einmal zwei Ausschnitte an, bevor man sich anschickt, das Ganze als Zusammenhang erleben zu wollen: zuerst Zwillinge, Krebs und Löwe (der Krebs ist ein wild entfesseltes Scherzo mit einer gewaltigen Steigerung, das bei Prog Rock-Fans enthusiastische Reaktionen hervorruft), dann Steinbock, Wassermann und die finalen Fische, also der Weg aus der winterlichen Finsternis zurück ins Licht des neuen Frühlings und darüber hinaus. Es ist Musik, die ihre Inspiration nicht aus der stilistischen Vielfalt und seelischen Zerrissenheit der Außenwelt bezieht, sondern aus dem Inneren.

Christoph Schlüren

Erschienen im Klassik-Frühling 2024