Versuch einer Annäherung an den wegweisenden Philosophen und Aufklärer Immanuel Kant
Immanuel Kant, der vor 300 Jahren, am 22. April 1724, im ostpreußischen Königsberg geboren wurde, zählt gemeinhin zu den überragenden und einflussreichsten Denkern des Abendlandes. Seine philosophiegeschichtliche Relevanz ist tatsächlich unbestreitbar. Generationen von Intellektuellen haben sich intensiv an Kants Ideen abgearbeitet oder daran angeknüpft. Insbesondere die deutsche (systematische) Philosophie des 19. und sogar 20. Jahrhunderts – freilich unter Einbeziehung der „großen Namen“ wie etwa Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Adorno – muss im Wesentlichen als Auslegung und Fortbildung der kantischen verstanden werden. Auch diente Kant für lange Zeit praktisch als „Reset-Knopf“, wann immer man eine bestimmte neue Denkrichtung auf theoretischen Abwegen wähnte. Einige Berühmtheit erlangte die um 1860 von Otto Liebmann im Zuge seiner kritischen Analyse diverser nachkantischer Ansätze formulierte Devise „Also muss auf Kant zurückgegangen werden“.
Dabei ist Kant eigentlich bis heute ein ziemlich schwer greifbarer Fall geblieben. Sowohl was die philosophischen Ansichten, als auch was die Persönlichkeitsstruktur angeht. In beide Richtungen tut sich uns eine beachtliche Komplexität auf, und fast wirkt es, als hätten Persönlichkeit und Lebenswandel des Philosophen der Rezeption noch größere Verlegenheit bereitet als sein Werk. Denn angesichts einer Vielzahl von einschlägigen Tendenzen – Kant ging einem streng geregelten Tagesablauf nach, er liebte die Ordnung, hatte einen Hang zur Symmetrie, verlor sich gern in den Details, dachte häufig in juristischen Kategorien, reiste nicht etc. – mag das Verdikt des „Spießertums“ (wie es der Romantiker Heinrich Heine seinerzeit völlig unverblümt artikulierte) nicht ganz ungerechtfertigt erscheinen. Ebenso wenig der Versuch, daraus einen gewichtigen Einwand gegen die Qualität bzw. Bedeutsamkeit des Oeuvres abzuleiten. Jedoch mangelt es dem typischen Spießer zuvörderst an Phantasie und Neugierde, wovon Kant im Überfluss besaß. Die restriktiven Züge waren eher die Kehrseite einer hochsensiblen und zur Melancholie gestimmten Natur. Dass beispielsweise der junge Kant eine starke Passion für das Billardspielen hatte und seine Studenten ihn später als „galanten Magister“ wahrnahmen, entzieht der gehässigen These vom „Philister“ weiteren Nährboden.
„Socrates u. Jesus waren mir Muster sowie Das Moralische Gesez in unß. u. der gestirnte Himel über unß! Kant!!!“
(Ludwig van Beethoven, Eintrag in einem Konversationsheft)
Mit seinem epochalen Hauptwerk, der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781, trat Immanuel Kant erst im Alter von 57 Jahren an die Öffentlichkeit. Da galt er nach damaligem Maßstab schon als Greis. Obwohl sich die Konzeptionsphase dieses Buches über einen beträchtlichen Zeitraum erstreckte, erfolgte die finale Niederschrift in relativer Hast. Der Zugänglichkeit des Textes war das sicherlich nicht förderlich. Erschwerend kommen gewisse stilistische Merkmale hinzu, ein gemäß Heine „grauer, trockener Papierstil“ und „in hofmännisch abgekältete Kanzleisprache eingekleidete Gedanken“. Jedenfalls musste eine derartige Melange geradewegs zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen. Sehr zum Leidwesen des stets um Klärung bestrebten Autors. Bis 1790 legte Kant dann u.a. noch zwei maßgebliche Ergänzungsschriften, die „Kritik der praktischen Vernunft“ und die „Kritik der Urteilskraft“, vor. In inhaltlicher Hinsicht vollzog er damit insgesamt etwas, was er selbst – ganz unbescheiden – als „Revolution in der Denkungsart“ bezeichnete. Es handelte sich allerdings um eine Erschütterung des Welt- und Menschenbildes, wie es sie seit Kopernikus nicht gegeben hatte. Und gleichsam um eine weitgehende Neujustierung der gelehrten Philosophie.
Nur einzelne zentrale Aspekte dieses vielschichtigen „Turns“ seien hier kurz umrissen. Erstens: Kant erhebt den strikten Anspruch auf anti-dogmatisches Philosophieren. Die Philosophie solle endlich auf den Standpunkt sicheren Wissens geführt und ihr dadurch nachhaltig zu Legitimation verholfen werden. Möglich sei dies in Form und Funktion einer fundamentalen und systematisch angelegten Wissensbegründung. Der Begriff „Wissenschaftslehre“ wäre als Charakterisierung übrigens nicht unpassend, er ist aber natürlich der jüngeren Terminologie Johann Gottlieb Fichtes zuzurechnen. Zweitens: Unter dem Strich beruhen Kants Ausführungen auf einer Kerneinsicht, dass nämlich wir Menschen „nur das erkennen, was wir auch selber machen können“. Das menschliche Erkenntnisvermögen sei in seinem Verhältnis zur Realität (egal, ob in theoretischer oder praktischer Ausrichtung) konstitutiv, im Sinne von „allgemein gesetzgebend“. Das kantische Philosophiemodell stellt genau die kritische Ausbuchstabierung eben dieser kühnen Überzeugung dar.
Das vor dem gegebenen Hintergrund unverzichtbare Prädikat „kritisch“ ließe sich am besten wohl mit „differenziert“ übersetzen. Obgleich das erkennende Individuum bei Kant zum Dreh- und Angelpunkt wird, vertritt er damit z. B. noch lange keinen platten Solipsismus. Überhaupt gehört es zu den signifikanten Vorzügen seines Denkens, dass es überaus dialektisch und dialogorientiert ist. Vormals als unvereinbar deklarierte Positionen (wie bei den Streitfällen von Empirismus und Rationalismus oder Realismus und Idealismus) gelangen hier zu einer ausgewogenen, bisweilen höchst scharfsinnigen Vermittlung.
Indem aber der Vermittlungsakt als solcher ein Stück weit immer auch „Relativierung“ bedeutet und im Rahmen eines möglichst umfassenden philosophischen Systems kaum eine Frage und insofern kaum eine (traditionelle) Antwort davon bzw. von kritischer Überprüfung ausgenommen werden darf, kann es nicht ernsthaft verwundern, dass Immanuel Kant für zahlreiche zeitgenössische Rezipienten zunächst keineswegs der willkommene Versöhner, sondern vielmehr Inbegriff des unerbittlichen Zerstörers war. Das Wort vom „Alleszermalmer in der Philosophie“ (Moses Mendelssohn) machte die Runde. Ungeachtet der harten Abwehrimpulse entspann sich jedoch recht bald auch eine lebhafte kons-truktive, um nicht zu sagen kreative Auseinandersetzung mit dem neuen Ansatz. Bezeichnenderweise ging die kantische Revolution den progressiv gesinnten Anhängern gar nicht weit und erst recht nicht tief genug. Kant habe zwar richtige „Resultate“ geliefert, die dazugehörigen „Prämissen“ würden indes fehlen. So befand es der zwanzigjährige Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in einem Brief an Hegel. „Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?“
Dass er mit seinem philosophischen Projekt offenbar nicht ordentlich zu Ende gekommen sei, kam dem alternden Meister zwischenzeitlich selbst in den Sinn; vielleicht als Konsequenz der von ihm mit Interesse begleiteten Debatte. Als Mittsiebziger bündelte Kant abermals alle seine Kräfte und nahm eine Schrift in Angriff, mit der er eine just identifizierte neu-ralgische Lücke im eigenen Systembau schließen wollte. Für die Vollendung des Werkes reichte die Energie leider nicht mehr aus. Dennoch bezeugt speziell dieses fragmentarische „Opus Posthumum“ ein beeindruckendes Niveau an (später) geistiger Agilität.
„Übrigens bedürfen Kants Werke nicht meiner schwachen Lobrede, sondern werden ewig ihren Meister loben und, wenn vielleicht auch nicht in seinem Buchstaben, doch in seinem Geiste stets auf Erden leben.“
(Arthur Schopenhauer)
Erwähnenswert ist ferner der Umstand, dass Kant sich auch „um die philosophische Betrachtung der Kunst ein bleibendes Verdienst erwerben konnte“ (Arthur Schopenhauer). Wiederum bewegen wir uns hier im eingangs skizzierten und äußerst wundersamen Spannungsfeld zwischen Person und Werk. Weder scheint der den Bereichen der Wissenschaft und Ethik klar zugeneigte Denker persönlich ein entwickeltes Verhältnis zur Kunst gehabt zu haben, noch pflegte er mit den bedeutenden Künstlern seiner Zeit zu korrespondieren. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert gesteht Kant der Kunst noch nicht den Rang einer vollgültigen Erkenntnissphäre, sondern lediglich den einer hochgradigen Ausdruckssphäre zu. Seine Auffassung von Erkenntnis (oder Wissen) ist grundsätzlich auf Mitteilbarkeit und dabei letztlich auf begriffliche Durchdringung ausgelegt. „Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, heißt es bei ihm zugespitzt. Weil aber das Ästhetische ganz wesentlich auf der intuitiven Ebene verankert ist, widersetzt sich dieses eigentlich dem kantischen Wissensanspruch und dem darauf fokussierten Philosophieprogramm. Bei den Untersuchungen im Zusammenhang mit dem „Schönen“ und „Erhabenen“ in der „Kritik der Urteilskraft“ zielt Kant auch nur insoweit auf eine Ergründung der entsprechenden Phänomene ab, als es deren notwendige (gemütsinterne) Rezeptions- und andererseits künstlerische Hervorbringungsbedingungen betrifft.
Tatsächlich sind steile Karrierepfade nicht ausschließlich ambitionierten oder glücksbehafteten Menschen vorbehalten. Manchmal können Begriffe einen solchen Weg beschreiten. Gut gezeigt hat sich dies am von Kant entscheidend mitgeprägten „Genie“- Begriff, der dann im historischen Verlauf eine überschwängliche Anreicherung, ja Überhöhung erfuhr. Schon das kantische Verständnis legt die Messlatte hoch. Genie sei Erfordernis für die Hervorbringung schöner Kunst, es sei die unerlässliche geistige Disposition dazu. Während das gewöhnliche Subjekt sich bloß in und an der gesetzten Natur (natura naturata) orientiert, steht dem genialen Subjekt auch die unmittelbare Verbindung zur schaffenden Natur (natura naturans) offen. Bei der Hervorbringung eines schönen Artefakts wirkt die Natur also gewissermaßen schöpferisch durch den genialen Geist. Oder andersherum aufgezogen: Die Eigengesetzlichkeit des Kunstwerkes schöpft das Genie unwillkürlich aus der Natur. Dies alles traf um 1800 genau den Nerv einer aufstrebenden Generation von Kunstbeflissenen. Näheren Aufschluss über die Materie gewährt etwa Hans-Joachim Hinrichsens Buch „Ludwig van Beethoven – Musik für eine neue Zeit“. Der Blick richtet sich dort freilich vor allem auf die Kant-Affinität des großen Komponisten. In welchem Umfang Beethoven, der entgegen landläufiger Vorurteile ein versierter Leser war, sich in die Abhandlungen des Philosophen versenkt hat, ist heute schwer zu rekonstruieren. Auf Betreiben seines Lehrers, Christian Gottlob Neefe, wird er aber bereits als Jugendlicher mit dem kantischen Gedankengut in Berührung gekommen sein. Nur einen begrenzten Einfluss dürften ausgerechnet jene die Thematik der Musik direkt aufgreifenden Überlegungen Kants auf Beethoven ausgeübt haben.
„Alle Disziplinen wurden davon [d.i. vom kritischen Geist der kantischen Philosophie] ergriffen. Ja, sogar die Poesie blieb nicht verschont von ihrem Einfluss. … Der schönen Literatur und den schönen Künsten wurde diese kantesche Philosophie, wegen ihrer abstrakten Trockenheit, sehr schädlich. Zum Glück mischte sie sich nicht in die Kochkunst.“
(Heinrich Heine)
Doch hin zur Gegenwart. Bestände denn aus aktueller Perspektive die dringende Veranlassung, wieder auf Kant zurückzugehen? – In Anlehnung an einen bekennenden Kantianer des 20. Jahrhunderts – die Rede ist von Helmut Schmidt – könnte man entgegnen, dass die Frage so gar nicht richtig gestellt sei. Eher sollte vielleicht darüber nachgedacht werden, inwieweit wir heutzutage schon wieder hinter Kant und dessen Einsichten zurückgefallen sind. Das primäre Anliegen der Aufklärungsepoche, zu deren profiliertesten Exponenten Immanuel Kant zweifellos zählte, war die Befreiung des individuellen Geistes von ungebührlichen (selbstverschuldeten) Barrieren. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, lautete der Wahlspruch. Es ist dies überhaupt eine Grundbedingung für dialogisches, mithin funktionales Miteinander und ultimatives Antidot gegen extreme Denkmuster. „Aufklärung“ ist allerdings kein kristalliner Zustand, sondern fortwährender Prozess. Für das, was die kantische Philosophie an Mehrwert bereithält, gilt im besonderen Maße das goethische Diktum, dass es zuerst (unter Anstrengung und womöglich immer wieder auf ein Neues) erworben werden müsse, um in den Besitz überzugehen.
Robert Funk
Erschienen im Klassik-Sommer 2024