Ruf des Meeres

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Lydia Maria Bader präsentiert maritimes Originalrepertoire für Klavier

Es wogt und brandet, es wiegt sich und säuselt, es rauscht und schäumt. Manchmal liegt es einfach nur so da. Aber meist ist es in Bewegung, das Meer, zumindest in den 17 Stücken auf Lydia Maria Baders neuer CD Tales of the Sea. Vielleicht brauchte es gerade ein „geborenes Alpenmädel mit einem gesunden Respekt vor dem Meer“, wie sie sich selbst beschreibt, um einmal das maritime Repertoire für Klavier solo zu erforschen und die spannendsten Geschichten zu erzählen von sanften Brisen und gewaltigen Stürmen, von wagemutigen Ozeanreisenden und romantischen Meerjungfrauen. Aufgewachsen ist Lydia Maria Bader allerdings in der Nähe des Chiemsees, und sie wohnt in Offenbach am Main. Das Wasser war also immer in der Nähe. „Ich wollte schon lange eine Wasser-CD machen“, sagt sie denn auch. „Dann kam in den letzten Jahren eine immer größere Faszination fürs Meer hinzu. Und dann habe ich angefangen zu recherchieren.“
Die meisten Wasserstücke, die man kennt, haben mit Seen, Flüssen oder dem Regen zu tun – oder sind fürs Orchester geschrieben. Doch das schreckte Lydia Maria Bader nicht ab. Im Gegenteil, schließlich ist sie eine passionierte Schatzfinderin mit einem Faible für Komponisten jenseits des Standardrepertoires. Und was sie da entdeckt hat, ist wirklich erstaunlich. Etwa die Poems of the Sea des aus Genf stammenden, später in den USA lebenden Ernest Bloch, dessen mittleres „Gedicht“ auf einem alten Shanty basiert. Oder die Etüde Ondine (die Wassernymphe Undine), das op. 1 des gerade mal zwölfjährigen Anton Rubinstein. Oder auch das in der Tat idyllische und gänzlich „unwetterfreie“ Sea Idyl des Briten Frank Bridge.
Zwei längere Zyklen aber ragen heraus: Die Sea Pieces des in Frankfurt ausgebildeten Amerikaners Edward MacDowell aus dem Jahr 1898 stellen nicht das Wasser selbst ins Zentrum, sondern die Menschen – beispielsweise auf der Mayflower, die im Jahre 1620 von England aus in die Neue Welt hinaussegelten, begleitet von Hoffnungen, aber doch auch melancholisch gestimmt über den Abschied vom Altvertrauten. Der bestrickend schöne Zyklus ist klassisch spätromantisch gehalten, während Bloch und vor allem Gustave Samazeuilh das Meer in den schönsten impressionistischen Klangfarben malen. „Egal mit wem ich spreche, den Namen Samazeuilh kennt niemand“, erzählt Lydia Maria Bader. „Man findet auch im Internet wenig über ihn. Er ist zwar 90 Jahre alt geworden, aber er hat wenig komponiert. Le chant de la mer hat mir mein ehemaliger Lehrer Michael Schäfer, der auf ‚unerhörte‘ Musik spezialisiert ist, ans Herz gelegt.“
Dieser dreiteilige Zyklus von 1905 ist die überraschendste Entdeckung des Albums. „Es beginnt mit der totalen Stille, man hört im ersten Stück sozusagen den Herzschlag des Meeres, und im dritten Stück bricht komplett die Hölle aus, man fährt durchs schlimmste Unwetter. Aber am Ende klart es wieder auf, und die Sonne scheint. Das ist magisch. – Und überhaupt“, fährt Lydia Maria Bader fort, „hat man das Meer früher als Naturgewalt gesehen, als groß, düster, gewaltig und stark mit der Seefahrt verbunden – während es für uns heute vor allem ein Urlaubsort ist, wo man mit dem Cocktail am Strand liegt.“
Einen kleinen Kontrapunkt setzt schließlich die bildhafte Ouvertüre Small Stream des Chinesen Zhu Gongyi. 2022/23 veröffentlichte Lydia Maria Bader über neun Monate hinweg Chinese Encores als digitale Singles, ihr letztes Album vor Corona hieß Chinese Dreams. „Bei meiner ersten China-Tour 2009 bekam ich von meiner Agentur ein Stück, das ich als Zugabe spielen sollte. Das war so wahnsinnig schön, das hat mich ins Herz getroffen, das hab ich dann auch in Deutschland als Zugabe gespielt. Die Tourneen und Zugabenstücke wurden mit der Zeit zahlreicher, und inzwischen ist das ein richtiger Schwerpunkt in meinem Repertoire“, erzählt Lydia Maria Bader. „Deshalb musste auch das Stück von Zhu Gongyi unbedingt auf die CD.“
Nicht aufgenommen hat sie Franz Liszts Legende Der heilige Franziskus auf den Wogen schreitend, das aber Teil des Konzertprogramms ist, mit dem Lydia Maria Bader ab dem 1. September auch live in deutschen Konzertsälen zu erleben sein wird. Was sie inzwischen an neuen Entdeckungen gemacht hat, will die Pianistin, die schon mit 15 Jahren an der Münchner Musikhochschule ihr Studium begann und später auch bei Michel Beroff in Paris studierte, noch nicht verraten. Man darf aber sicher sein, dass es spannend bleibt in ihrem Repertoire. Ebenso spannend wie auf dem großen weiten Meer.

Arnt Cobbers

Erschienen im Klassik-Herbst 2023

Tales of the Sea

Werke von Ernest Bloch, Zhu Gongyi, Gustave Samazeuilh, Frank Bridge, Anton Rubinstein und Edward MacDowell

Lydia Maria Bader (Klavier)

im Juli erschienen beim Label Ars Produktion