Den französischen Komponist Reynaldo Hahn gilt es noch immer zu entdecken. 2024 wird sein 150. Geburtstag gefeiert.
Liebhaber von Marcel Proust, Schüler von Jules Massenet, Mitschüler von Maurice Ravel, Freund von Sarah Bernhardt – Reynaldo Hahn wird oft bloß eine Statistenrolle zugewiesen. Dabei lohnt es, diesen vielseitigen Künstler kennenzulernen, der im Laufe seines Lebens nicht nur Komponist war, sondern auch Sänger, Pianist, Salonlöwe, Dirigent, Hochschullehrer, Musikkritiker und Operndirektor. Sein 150. Geburtstag am 9. August 2024 bietet einen Anlass, sich näher mit Hahn zu befassen.
Geboren wird er 1874 in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Sein Vater ist ein jüdischer Einwanderer aus Hamburg, der in Lateinamerika als Kaufmann und Ingenieur zu Reichtum und Ansehen gelangt ist, die katholische Mutter ist Nachfahrin von Basken. 1878 siedelt die begüterte Familie mit ihren vielen Kindern nach Paris um und bezieht ein Haus im eleganten 8. Arrondissement, damals das neue Nobelviertel. In diesem Biotop der gehobenen Pariser Bourgeoisie wächst Reynaldo Hahn auf. Nach privatem Kompositionsunterricht beginnt er mit elf Jahren die Ausbildung am Pariser Konservatorium. Er wird Klavierschüler von Émile Decombes, bei dem auch Ravel studiert. Jules Massenet ist Hahns prägender Kompositionslehrer. Später nimmt Hahn zudem Privatstunden bei Camille Saint-Saëns. Bereits mit 13 Jahren sorgt er mit seiner Liedkomposition Si mes vers avaient des ailes auf Verse von Victor Hugo für Furore. Bald macht er sich einen Namen in den mondänen Salons Adeliger und betuchter Bürgerlicher, wo er auch noch als Erwachsener seine Liedkompositionen am Klavier persönlich vorstellt. „Es war unvergesslich! Eine leichte Baritonstimme, nicht sehr groß, flexibel wie Gras, geführt mit bewundernswerter Intelligenz“, so erinnert sich später ein Zeitgenosse.
In dieser Welt der Salons lernt Hahn mit 19 Jahren den drei Jahre älteren Marcel Proust kennen. Eine leidenschaftliche Liaison beginnt. Der Komponist und der Schriftsteller tauschen sich über Kunst, Literatur, Musik auf Augenhöhe aus. Sogar ein gemeinsames Projekt entsteht: die Klavierstücke Portraits des peintres über große Maler der Vergangenheit, programmatisch mit Gedichten von Proust verknüpft. Nach nicht einmal zwei stürmischen Jahren, die mitunter von Eifersucht und Missverständnissen überschattet sind, trennt sich das Paar 1896, bleibt aber bis zu Prousts Tod 1922 eng befreundet. Später lernt Hahn den 24 Jahre jüngeren Schauspieler und Sänger Guy Ferrant als Partner fürs Leben kennen. Eine tiefe Freundschaft verbindet den Komponisten auch mit der Schauspielerin Sarah Bernhardt, für die Hahn Bühnenmusik komponiert.
1903 schreibt Proust in der Zeitung Le Figaro eine Eloge auf den Freund. Darin bezeichnet er Reynaldo Hahn als „Genie-Musikinstrument“, das die Fähigkeit besitze, „die Herzen liebevoll zu umarmen, alle Augen zu benetzen“. Dies gilt ohne Zweifel für Hahns rund hundert Liedkompositionen. Sie sprechen emotional direkt an, sind betörend, sinnlich, suggestiv und zeigen den talentierten Melodienzauberer. Seine Kompositionen auf Verse von Victor Hugo, Théophile Gautier und Paul Verlaine haben heute einen festen Platz im Repertoire von Gesangsstars wie Susan Graham, Lea Desandre oder Philippe Jaroussky. Einflüsse von Massenet und Gabriel Fauré, der Hahn bei Soireen gerne begleitet, sind bei den Liedern herauszuhören, auch sehr dezente Impulse aus Vaudeville und Cabaret. Andere seiner Werke haben einen neobarocken Anstrich, etwa O Chloris, mit dezenten Anleihen aus Serse von Georg Friedrich Händel.
„Die Freiheit des Geistes ist das einzige, worauf ein Mensch wirklich stolz sein kann.“
Reynaldo Hahn
Eine Suite auf der Basis von Barocktänzen, kurioserweise um historisches Kolorit der Renaissance zu kreieren, komponiert Hahn 1905 mit Le Bal de Béatrice d’Este, damals höchst erfolgreich, heute nach wie vor auf dem Programm von Kammerensembles. Die Besetzung aus Blasinstrumenten, Klavier, zwei Harfen, Pauken und Schlagzeug erinnert an den späteren Neoklassizismus der 20er Jahre. Der Unterschied: Hier fehlen noch die übermütige Ironie und dekonstruierenden Montagetechniken, wie sie später bei Francis Poulenc oder Darius Milhaud von der Groupe de Six zu finden sind. „Genug der Wolken, Wellen, Aquarien, Nixen und nächtlicher Düfte; wir brauchen eine Musik für die Erde, EINE Musik für alle Tage.“ So bringt der mit den Six eng verbundene Jean Cocteau 1918 die neue Stoßrichtung auf den Punkt.
Jahre vorher arbeitet Reynaldo Hahn mit Cocteau an einem Tanzstück für die Ballets russes zusammen: Le Dieu bleu, getanzte Tempelszenen in einem Fantasie-Indien, mit Göttern, die ins Geschehen der Menschen eingreifen. Die Produktion, die an den Erfolg von Igor Strawinskys Märchenballett Feuervogel anknüpfen soll, kommt 1912 am Théâtre de Châtelet zur Uraufführung, erfüllt allerdings kein bisschen die hochgesteckten Hoffnungen. Mit Opern ist Hahn dagegen erfolgreicher: Der Exotismus-Mode der Belle Époque ist die 1898 uraufgeführte L’ile du rêve verpflichtet, deren Handlung auf Tahiti spielt. Die Epoche des Sonnenkönigs Ludwig XIV. wird in La Carmélite von 1902 heraufbeschworen, fernöstliches Kolorit in der 1921 uraufgeführten Oper La Colombe de Bouddha. Am erfolgreichsten ist Hahns Verarbeitung von Shakespeares Kaufmann von Venedig. Le Marchand de Venise, 1935 uraufgeführt an der Pariser Opéra, mit Musik, die Spätromantik, Mozart- und Bachanklänge verbindet, steht in Frankreich auch heute noch zuweilen auf dem Programm der Theater. 2017 gab es die deutsche Erstaufführung in Bielefeld.
Die ersten Skizzen zu Le Marchand de Venise notiert Reynaldo Hahn bereits während des Ersten Weltkriegs. 1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst, arbeitet in einem Militärbüro an der Front, später ist er im Kriegsministerium für verschlüsselte Mitteilungen zuständig. In diesen Jahren entsteht auch der Zyklus für zwei Klaviere Le Ruban Dénoué. Dieses „gelöste Band“ ist eine Folge von zwölf Walzern, ein melancholisch gefärbter Abgesang auf das 19. Jahrhundert. Die Pianisten Éric Le Sage und Frank Braley haben den Zyklus 2023 neu aufgenommen. Nach dem Krieg wird Reynaldo Hahn 1920 eine Professur für Gesang an der neu gegründeten École Normale de Musique in Paris angeboten, eine Position wie geschaffen für den leidenschaftlichen Sänger-Komponisten. Daneben entdeckt er das komische Genre für sich und schreibt einige Operetten. Darin zeigt er, dass er keineswegs ein Relikt der Belle Époque ist, wie manche argwöhnen. Nun bringt er auch Modetänze wie Foxtrott und Tango in seine Partituren. Seine bis heute beliebteste Operette ist Ciboulette von 1923, die Geschichte einer jungen Marketenderin vom Lande, die sich in Paris als spanische Sängerin ausgibt, um einen Grafen für sich zu gewinnen. In jüngerer Zeit hat die Kritik Ciboulette enthusiastisch mit der Fledermaus und der Lustigen Witwe verglichen. Für Juli 2024 ist Hahns Operette in Hamburg an der opera stabile, der Studiobühne der Staatsoper, angesetzt.
Reynaldo Hahn war zudem ein großer Verehrer der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Früh erwarb er sich einen Ruf als profilierter Mozart-Dirigent – und dies nicht nur in Frankreich. 1906, im Jahr von Mozarts 150. Geburtstag, dirigierte er Don Giovanni bei den Salzburger Festspielen. Er schrieb sogar eine Operette über ihn: Mozart, 1925uraufgeführt, ist auch heute noch auf Bühnen in Frankreich hin und wieder zu erleben. Die Handlung erzählt von Flirts des jungen Mozart während seines Paris-Aufenthalts 1778. Die Musik verwebt Stücke Mozarts mit Eigenkompositionen von Hahn. Hahns späte Operette Ô mon bel inconnu! von 1933, eine flotte Verwechslungskomödie, die mit einer Kontaktanzeige beginnt, stellte Ende 2023 der Dirigent Hervé Niquet mit dem Münchner Rundfunkorchester im Prinzregententheater dem Publikum wieder vor.
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebt die Kammermusik eine neue Blüte, und auch Reynaldo Hahn schreibt Kammerwerke und zwei Konzerte: 1928 entsteht sein Violinkonzert mit einem Mittelteil, der als Souvenir de Tunis Lokalkolorit und Tanzrhythmen präsentiert. Das Klavierkonzert von 1931 verbindet improvisatorische Frische und Melodienfülle mit quirliger Motorik und einem Hauch Melancholie. Kürzlich hat es der Pianist William Youn mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Valentin Uryupin neu eingespielt. Auch für das junge Medium Film schreibt Reynaldo Hahn Musik, darunter 1934 für eine Verfilmung der Kameliendame. In den 30ern beginnt er zudem eine weitere Karriere als Essayist und viel beachteter Musikkritiker der Tageszeitung Le Figaro.
Als die Nazis 1940 in Paris einfallen, muss Hahn wegen seiner jüdischen Herkunft fliehen und geht nach Cannes und Monte Carlo. Nach seiner Rückkehr nach Paris wird er zum Leiter der Opéra berufen. Doch nur zwei Jahre später, 1947, stirbt er an einem Gehirntumor. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Pére Lachaise – nicht weit von der Grabstätte Marcel Prousts.
In der Zeit der Nachkriegsavantgarden wurde die Musik Reynaldo Hahns bald vergessen. Erst Ende des 20. Jahrhunderts begann seine Wiederentdeckung. Gerade die Offenheit, sein unorthodoxer, vielseitiger, spielerischer Zugriff auf Formen, Genres und Traditionen spricht heute an. Letztlich waren für den sympathisch undogmatischen Vollblutmusiker Reynaldo Hahn offenbar sämtliche musikalischen Idiome gleichwertig, ob ernst oder komisch, ob historistisch oder aus der Unterhaltungsmusik. Damit war er schon früh geradezu postmodern avant la lettre. „Die Freiheit des Geistes ist das einzige, worauf ein Mensch wirklich stolz sein kann“, erklärte Reynaldo Hahn einmal.
Ecki Ramón Weber
Erschienen im Klassik-Sommer 2024