Im besten Sinne zwiespältig

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Eine tendenziell ernste Annäherung an den Humoristen und Musikliebhaber Vicco von Bülow alias Loriot

In der im November 2003 vom ZDF initiierten Umfrage bezüglich der „größten Deutschen“ belegte Loriot einen stolzen 54. Platz – umrahmt von Karl May und Albert Magnus. Knapp dreieinhalb Jahre später schaffte er es bei der entsprechenden Eruierung nur der „besten deutschen Komiker“ direkt an die Spitze der Liste. Bei aller Vorsicht gegenüber solchen Erhebungen waren und sind die Ergebnisse sicherlich ein Ausweis von beachtlicher Popularität; allerdings wohl auch ein gewisses Indiz dafür, dass man diesen Künstler kaum (mehr) angemessen in seiner Unangepasstheit wahrnimmt und begreift. Eine Unangepasstheit, über deren spezifische Ausmaße, Umstände und Ursachen problemlos ganze Bücher zu füllen wären.

Loriot wuchs schon relativ früh als ein Scheidungskind und bald sogar als Halbwaise auf. Die Scheidung der Eltern erfolgte, bevor er sein fünftes Lebensjahr erreicht hatte; die Mutter verstarb bereits gut zwei Jahre darauf, im Oktober 1929 – bloß dreißigjährig. Bis der Vater 1932 erneut heiratete, kam der Junge bei der Großmutter unter. Diese kurze, aber prägende Zeit war in Loriots späterer Erinnerung gekennzeichnet durch eine Umgebung, die noch weitgehend so war wie jene, „als meine Eltern Kinder waren“.

©Loriot 1971, Unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic Lizenz auf Wikipedia

Als Berufsweg strebte der Teenager bzw. junge Erwachsene zunächst eine ordentliche Offizierslaufbahn an – etwas für die Familie von Bülow nicht Untypisches. Loriot brachte es bis zum Oberleutnant. Allerdings wurde er dadurch ganz unmittelbar ins Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs verwickelt. Drei Jahre war er mit der 3. Panzerdivision an der Ostfront im Einsatz und durchlitt die Kriegsschrecken hautnah. Überhaupt zählte der 1923 Geborene qua Alter zum Kreis derer, die sich nach Kriegsende mit der „Schuld- bzw. Verantwortungsfrage“ (in Hinblick auf das Dritte Reich) unweigerlich auseinanderzusetzen hatten. Nach allem, was man heute weiß und vorbringen kann, muss die nationalsozialistische Gesinnung Loriot zeitlebens fremd, ja, zutiefst fremd gewesen sein. Vielmehr peinigte ihn dauerhaft ein tiefes Schamempfinden für diesen so dunklen Teil der deutschen Geschichte.

Zu den Optimisten wollte sich Loriot im Grunde ohnehin nicht zählen lassen, jedenfalls nicht gefühlsmäßig. Gleichwohl präzisierte er dem Journalisten Gero von Boehm gegenüber seine weltanschauliche Position einmal dahingehend, dass er Pessimist zwar „im Kleinen“, aber doch Optimist „im Großen und Ganzen“ sei. Eine materialistische Fortschrittsgläubigkeit sollte damit freilich keineswegs zum Ausdruck gebracht werden. Eher schon verstand sich Loriots ambivalente Grundanschauung als eine Konzession an das protestantische Christentum, durch das er angesichts seiner preußischen Wurzeln beeinflusst war.

„Ich bin nicht nur ein Deutscher, ich bin ein Preuße – und das wiegt schwerer.“ Was zunächst wie ein erstaunlich klares und emphatisches Identitätsbekenntnis aussieht, musste sich spätestens im Kontext der Bundesrepublik Deutschland als brüchiges Konstrukt erweisen. Denn hier gab es Preußen im Sinne einer irgendwie eigenständigen Region bekanntlich nicht mehr. So war es also eher „das Preußische“, mit dem sich Loriot identifizieren und in dem er sich persönlich wiederfinden konnte. Aus seiner Sicht gehörte dazu, abgesehen von den einschlägigen Neigungen zur Ordnung, Genauigkeit, Disziplin und Pflichterfüllung, paradoxerweise auch der Hang zum Rebellischen. Der Zwiespalt sei Teil des preußischen Naturells.

Die nähere Erprobung und Verwirklichung eines solchen „Rebellentums unter preußischen Vorzeichen“ konnte sich tatsächlich gut im Rahmen des humoristischen Schaffens vollziehen. Für Loriot gab es da gleich mehrere Ansatzpunkte oder Stellschrauben. Zum einen besann er sich auf ein eigentlich unorthodoxes Humor-Paradigma. Das Komische suchte er nicht etwa im Absurden, d.h. nicht im außerhalb oder gar im Gegensatz zur Wirklichkeit und Normalität Stehenden. Er interessierte sich primär für die gegebene Wirklichkeit und Normalität, mit dem Ziel, deren immanente Absurditäten schonungslos aufzuzeigen. Schon aufgrund dieser Methodik darf uns Loriot als ein originär gesellschaftskritischer Humorist gelten. Die Stoßrichtung glich nun der eines jeden seriösen Satirikers: gegen die Macht, gegen die Mächtigen. Allein mit der Besonderheit, dass Loriot die bestehende bundesrepublikanische Grundordnung als durchaus funktional erachtete und deshalb Macht und Mächtige konsequent nach Maßgabe eben dieser demokratischen Verfasstheit verortete. Hin und wieder haben skeptische Stimmen die Schlagkraft seines (vordergründig) konzilianten Stils relativiert. Eine derartige Kritik verkennt indes, dass Loriot allzu offensive Botschaften bewusst vermied, um die Empfänglichkeit des Publikums nicht überzustrapazieren. Und übersieht zumal, dass zahlreiche seiner Sketche in ihrem Kern eine flammende Leidenschaft für Anarchisches, Skandalöses und Unanständiges offenbaren.

Zu Loriots stärksten Leidenschaften zählte jedoch – neben der großen Affinität zu Hunden und insbesondere Möpsen – die Musik. Musik, vornehmlich klassische Musik, bedeutete ihm eingestandenermaßen mehr noch als das Zeichnen. Dabei blieb er, der nie ein Musikinstrument zu beherrschen erlernte, im Wesentlichen bloß „passiver Musiker“, also begeisterter Rezipient. Wiederum ein nicht unerheblicher Zwiespalt! So souverän Loriot mit diesem Dilemma umzugehen vermochte, hat es ihn doch ein Stück weit mit Wehmut erfüllt. Eine lockere Parallele ergibt sich hier übrigens zu einem anderen „Magier“ der deutschen Sprache, nämlich zu Thomas Mann. Hinzu kommt, dass, ähnlich wie im Falle Manns, auch für Loriot das Opernwerk Richard Wagners eine überragende Rolle spielte. Wagners vielschichtiger Kosmos faszinierte ihn, zog ihn nachhaltig in den Bann. Die feine Ironie dabei: der bewunderte Komponist spannte einst dem ebenfalls geschätzten Vorfahren Hans von Bülow die Ehefrau Cosima aus. Laut Loriot zwar „eine sehr unangenehme Geschichte“, aber für sich genommen anscheinend doch kein ausreichender Grund, um selbst ernsthaft von Wagner abzulassen. Im Gegenteil. Die Verdienste, die sich Loriot speziell um Wagner erworben hat, sind kaum aufzuwiegen. Sie lagen und liegen vor allem in der Entkräftung von Vorurteilen, in der – humorvollen – Destruierung eines allzu stereotypen Wagner-Bildes.

Loriot dampfte den Ring auf zweieinhalb Stunden ein. Das Cover der 2-CD-Box ziert sein Wagner-„Porträt“

Zu Loriots stärksten Leidenschaften zählte jedoch – neben der großen Affinität zu Hunden und insbesondere Möpsen – die Musik. Musik, vornehmlich klassische Musik, bedeutete ihm eingestandenermaßen mehr noch als das Zeichnen. Dabei blieb er, der nie ein Musikinstrument zu beherrschen erlernte, im Wesentlichen bloß „passiver Musiker“, also begeisterter Rezipient. Wiederum ein nicht unerheblicher Zwiespalt! So souverän Loriot mit diesem Dilemma umzugehen vermochte, hat es ihn doch ein Stück weit mit Wehmut erfüllt. Eine lockere Parallele ergibt sich hier übrigens zu einem anderen „Magier“ der deutschen Sprache, nämlich zu Thomas Mann. Hinzu kommt, dass, ähnlich wie im Falle Manns, auch für Loriot das Opernwerk Richard Wagners eine überragende Rolle spielte. Wagners vielschichtiger Kosmos faszinierte ihn, zog ihn nachhaltig in den Bann. Die feine Ironie dabei: der bewunderte Komponist spannte einst dem ebenfalls geschätzten Vorfahren Hans von Bülow die Ehefrau Cosima aus. Laut Loriot zwar „eine sehr unangenehme Geschichte“, aber für sich genommen anscheinend doch kein ausreichender Grund, um selbst ernsthaft von Wagner abzulassen. Im Gegenteil. Die Verdienste, die sich Loriot speziell um Wagner erworben hat, sind kaum aufzuwiegen. Sie lagen und liegen vor allem in der Entkräftung von Vorurteilen, in der – humorvollen – Destruierung eines allzu stereotypen Wagner-Bildes.

Zugespitzt formuliert könnte man behaupten, dass Loriots gesamtes kreatives Schaffen beinahe leitmotivisch von seiner Liebe zur Musik durchdrungen ist. Das gilt nicht weniger z.B. für die drolligen Zeichentrickepisoden mit Wum und Wendelin als für die beiden Ende der 1980er Jahre realisierten Operninszenierungen. Klugerweise machte er in diesem Zusammenhang um Richard Wagner einen respektvollen Bogen und ließ sich stattdessen auf (gleichsam dezidiert deutsches) Repertoire ein, welches ihm die Entfaltung der eigenen Kunst viel zwangloser gestattete: Friedrich von Flotows romantisch-komische Oper Martha und schließlich Webers Der Freischütz

Sogar bei weitaus abseitigeren Stücken gelang es Loriot gelegentlich, diesen durch sein Zutun einen zweiten Frühling zu verschaffen. Zumindest verdanken wir ihm die erfolgreiche Wiederbelebung einer wahren Perle preußischer Militärmusik um 1850. Wenn auch unter dem leicht irreführenden Titel „Opa-Hoppenstedt- Marsch“ genießt Friedrich Lübberts Helenenmarsch heutzutage wieder überregionale Beliebtheit. 

Apropos, im hohen Alter von 85 Jahren hat Loriot auf die Frage nach der persönlichen Identität dann doch noch mit einer verblüffend einfachen Antwort aufwarten können: „Eigentlich bin ich Opa Hoppenstedt. Das Alter trifft zu, das Befinden trifft zu, und das Aussehen trifft zu.“ Am 12. November 2023 wäre dieser im August 2011 verstorbene große Humorist, Musik- und Hundeliebhaber 100 Jahre alt geworden. Die Chancen stehen gar nicht schlecht, dass man sich auch in 100 Jahren genüsslich seiner erinnern wird. Ach was!

Robert Funk

Erschienen im Klassik-Winter 2023