„Man muss sich Zeit nehmen“

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Um 1900 war Xaver Scharwenka einer der Superstars der Musikwelt, als Klaviervirtuose und als Komponist. Der Dirigent Łukasz Borowicz setzt sich mit neuen Aufnahmen für ihn ein

Geboren 1850 im damals preußischen Samter bei Posen, heute Szamotuly bei Poznań als Sohn eines Deutschen und einer Polin, kam Xaver Scharwenka  mit 15 Jahren nach Berlin und komponierte mit 20 als sein op. 3 die Fünf polnischen Nationaltänze, deren erster ein Welthit wurde. Sein erstes Klavierkonzert brachte ihm mit 27 Jahren auch den Durchbruch als komponierender Virtuose. Scharwenka überquerte auf dem Weg zu Konzerten 28 mal den Atlantik, edierte die Gesamtwerke von Chopin, Schumann und Mendelssohn und war nebenbei noch fünffacher Vater.

Als bester Kenner seines Werks darf der Dirigent Łukasz Borowicz gelten, der gerade die Symphonie und das erste Klavierkonzert und zuvor bereits das vierte Klavierkonzert von Scharwenka aufgenommen hat und bald auch das dritte aufnehmen wird. Der gebürtige Warschauer ist – nach 15 Jahren als Erster Gastdirigent – seit 2021 Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Posen, Dirigierprofessor in Krakau und Erster Gastdirigent der Krakauer Philharmoniker und hat, mit Mitte 40, bereits über 130 CDs aufgenommen.

„Xaver Scharwenka ist ein Extrembeispiel für einen Komponisten, der komplett vergessen ist, ohne dass es dafür einen Grund in seinem Werk gibt. Wenn wir uns nur ansehen, was er komponiert hat: eine Oper, vier Klavierkonzerte, eine Symphonie, sehr gute Kammermusik und vor allem sehr viel und sehr gute Musik für Klavier solo. Wenn wir sehen, mit wem er befreundet war und wer ihn geschätzt hat: Franz Liszt, Johannes Brahms, Max Bruch. Man weiß nur von einem Auftritt Gustav Mahlers als Pianist mit Orchester, und da hat er den ersten Satz aus Scharwenkas erstem Klavierkonzert gespielt. Und in New York hat Mahler später das vierte Klavierkonzert mit Scharwenka als Solist dirigiert. Scharwenka war ein bedeutender Pädagoge, er hat in Berlin und dann auch in New York Konservatorien gegründet. Und als Klaviervirtuose war er einer der größten Stars des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und doch hat er sich, wie zahlreiche Komponisten seiner Zeit, für die Nachwelt sozusagen in Luft aufgelöst. Der erste Grund ist sicherlich: Der Erste Weltkrieg bedeutete einen Bruch in der Musikentwicklung, da endete die Romantik. Und nur sehr wenige Komponisten waren weiterhin erfolgreich im „alten“ Stil, Glasunow etwa oder Richard Strauss. Ein Großteil der romantischen Musik ist rasch aus dem Gedächtnis der Welt verschwunden.

Foto: Ksawery Zamoyski

Ein zweiter Aspekt: Scharwenka stammte aus einem Grenzland der Nationalitäten. Manchmal hilft das, manchmal nicht. Für die Polen war er ein Deutscher, Hans von Bülow nannte ihn in einer – positiven – Kritik einen Polen. Niemand hat sich nach seinem Tod für sein Andenken zuständig gefühlt. 

Und ein dritter Aspekt: Die Virtuosen, die auch Komponisten waren, haben für sich selbst komponiert. Und das wird dann gefährlich, wenn man keine technischen Grenzen kennt – wie Scharwenka. Seine Klavierkonzerte sind enorm schwer und sehr lang. Jemanden zu finden, der das spielen kann und will, ist nicht einfach. Wer nimmt diese Arbeit auf sich für ein Werk, dass er nur ein paar Mal in seinem Leben aufführen kann? Und setzt sich dann auch noch dem Vergleich mit wenigen, aber eindrucksvollen Aufnahmen aus: Vom Klavierkonzert Nr. 1 gibt eine wundervolle Einspielung mit Earl Wild und dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Münch. Die ist auch klanglich großartig! Als wir das Konzert jetzt mit Jonathan Powell aufgenommen haben, war uns bewusst: Wir treten gegen diese alte Aufnahme aus der Goldenen Ära des Klangs und des Repertoires an. Das ist die größte Herausforderung, wenn man unbekannte virtuose Musik aufnehmen will: Man muss einen Solisten finden.

Was Jonathan Powell geschafft hat, ist unfassbar! Für das Konzert braucht man eigentlich vier Hände. In vielen virtuosen Konzerten gibt es eine besondere Schwierigkeit: Bei Tschaikowsky sind es die Oktaven, bei Liszt die Triller usw. Aber bei Scharwenka findet man alle Schwierigkeiten, die man sich nur denken kann, in jedem einzelnen Klavierkonzert. Deshalb ist Scharwenka in gewisser Weise sein größter Feind: Die spieltechnischen Schwierigkeiten machen den meisten Pianisten Angst.

Kommen wir zur musikalischen Seite: Ich habe einige CDs aufgenommen für die Reihe der „romantischen Klavierkonzerte“ beim Label Hyperion, die inzwischen auf fast 90 Folgen angewachsen ist. Die ist enorm verdienstvoll und spannend, aber viele Konzerte, die von Virtuosen geschrieben wurden, haben einen schwachen Orchesterpart. Die Komponisten haben sich auf ihre Stimme konzentriert und wussten sicherlich oft auch nicht, wie man gut orchestriert. Bei Scharwenka ist das anders. Wie er fürs Orchester schreibt, ist sehr raffiniert und ganz erstaunlich. Er hat nicht viele Orchesterwerke komponiert, aber es wirkt, als hätte er sehr viel Erfahrung. Seine Partituren sind bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, Artikulation und Dynamik sind klar bezeichnet. Er weiß genau, was welches Instrument kann, er schreibt sehr gut für die Blasinstrumente und ebenso für die Streicher. Es gibt keine dieser typischen Automatismen, dass etwa die Celli mit den Bässen zusammenspielen und die Bratschen die Mitte ausfüllen – überhaupt nicht. Und es ist immer kontrapunktisch gearbeitet. Man findet zwar einige Dinge, die einem bekannt vorkommen, aber die zeigen nur, dass Scharwenka mit den Meisterwerken seiner Zeit, also sozusagen mit den aktuellen Trends vertraut war: Einiges in den Scherzandi-Teilen erinnert an Liszt – aber Scharwenka wusste, wie man ein Feuerwerk zündet und wie man das Schlagwerk, und zwar nicht nur die Pauken, einsetzt. Er wusste, wie man einen schweren Klang erzeugt, da folgt er Tschaikowsky. Und wenn man sich die Bläser anschaut, sieht man deutlich, dass er Brahms’ Partituren studiert hat. Das ist hochinteressant: Zu Scharwenkas Zeiten gab es in der deutschen Musiklandschaft eine scharfe Frontstellung zwischen den Parteigängern von Liszt und denen von Brahms. Aber Scharwenka verbindet beide Seiten – im Persönlichen, aber eben auch in seiner Musik.

Man merkt, dass auch Scharwenka das Ideal der Zeit verfolgte, das Klavierkonzert und die Symphonie zu verschmelzen – was ja in perfekter Weise in Brahms’ Konzert Nr. 2 gelungen ist. Aber er hat auch mit der Form experimentiert. Das erste Klavierkonzert hat drei Sätze: Allegro/Andante, Allegro, Allegro. Üblich war: Schnell, langsam, sehr schnell. Darüber hat er sich hinweggesetzt, aber eben nicht irgendwie, sondern sehr klar und formbewusst. Das ist ein wichtiger Unterschied zu vielen anderen Virtuosen-Komponisten. Die haben oft hier noch ein paar Oktaven drangehängt und dort noch eine Solo-Bravourstelle eingebaut – und hinterher fällt alles auseinander. Das ist bei Scharwenka überhaupt nicht so. Er hatte die Form immer im Blick.

Aber was ist das Wichtigste, was ein großes Klavierkonzert braucht? Gute Melodien! Und die sind da! Wenn Sie das Scherzo des ersten Klavierkonzerts einmal gehört haben – die Melodie bleibt Ihnen im Kopf. Das ist nicht einfach ein weiteres Konzert, das man sich mal anhört. Das will man gleich nochmal hören. Es ist originell. Und es ist gut!

All das gilt genauso für die Symphonie. Aber was hier noch dazukommt: der Einsatz von Leitmotiven im Wagnerschen Sinne und Hommagen an bedeutende Symphonien. Im letzten Satz sind klare Anklänge an Beethovens Neunte zu hören, was schön ist für die Hörer. Von der Symphonie gibt es eine ältere Aufnahme. Eine Sache haben wir entscheidend anders gemacht: Wir haben exakt die Metronom-Angaben befolgt. Das Scherzo ist bei uns viel schneller – und ähnelt dadurch plötzlich den Scherzi von Dvořák.

Also: Die Symphonie ist klar strukturiert, es gibt schöne Themen und Leitmotive, die Instrumentierung ist fehlerlos, die Proportionen stimmen. Ich denke, Scharwenkas Pech war schlichtweg, dass sich der Musikgeschmack Anfang des 20. Jahrhunderts geändert hat. Scharwenka kam aus der Mode – und ist bis heute nicht wiederentdeckt worden.

Die romantische Musik hat für heutige Hörer einen entscheidenden Nachteil: Man braucht Zeit, um sie schätzen zu lernen. Und die haben oder nehmen sich viele Menschen nicht mehr. Die Musik des 20. Jahrhunderts bietet viele Effekte. Bei Strawinsky zum Beispiel passiert dauernd etwas, alle zwei Minuten ändert sich die Stimmung. Im Barock sind die Stücke kurz und abwechslungsreich. Auch die Stücke aus der Klassik sind relativ kurz. Aber in den romantischen Symphonien müssen Sie sich eine Viertelstunde Zeit nehmen für ein Allegro. Natürlich wird viel Romantik gespielt – aber nur die Symphonien und Konzerte, die man kennt. Die hört man gern immer wieder. Aber unbekannte Werke der Romantik? Für die muss man sich Zeit nehmen! Ich habe die Hoffnung, dass es Leute gibt, die das tun. Und deshalb machen wir diese Aufnahmen.

Ich liebe es, solche Werke aufzuspüren und zu studieren. Im Falle von Scharwenka ist das auch eine Art Mission. Er wurde in der Nähe von Posen geboren. Wer, wenn nicht wir, soll ihn aufführen und der Welt bekannt machen? Hallo, hier gibt es jemanden, der sehr erfolgreich war in Berlin und ganz Europa und in den USA. Die größten Musiker und Kritiker haben ihn aufgeführt und gefeiert. Deshalb: Hört Euch diese Musik an!

Ich versuche diese Stücke natürlich auch im Konzert zu dirigieren. Aber die meisten Veranstalter haben Angst – und vertrauen ihrem Publikum nicht. Die bekannten Werke werden ja nicht nur deshalb so oft gespielt, weil sie Meisterwerke sind. Sondern weil die Veranstalter Angst haben, dass ansonsten Plätze leer bleiben. Dabei ist das Publikum viel offener, als man denkt. Lassen Sie uns Risiken eingehen! Und vor allem: Lassen Sie uns träumen!

Eines der komplexesten Werke, die ich je dirigiert habe, ist „Universal Prayer“ von Andrzej Panufnik. Die Uraufführung hat Leopold Stokowski geleitet. Und er sagte danach: In 50 Jahren wird diese Musik so populär sein wie die Neunte von Beethoven. Natürlich lag Stokowski falsch. Nach 50 Jahren haben wir jetzt die erste Aufnahme überhaupt gemacht, niemand kennt das Stück. Aber Stokowski und die Menschen im 20. Jahrhundert hatten etwas, was wir verloren haben: den Glauben an die Zukunft. Stokowski hatte eine Vision, wie die Musik und die Kunst – und das Publikum – sich entwickeln sollten. Musik ist dynamisch, die Musikwelt ist kein Museum. Selbst der vermeintlich konservative Furtwängler hat Hindemith gespielt und andere Zeitgenossen. Karajan hat Penderecki dirigiert. Natürlich wird auch heute zeitgenössische Musik aufgeführt. Aber sie dient oft als Feigenblatt. Die Vision ist uns verloren gegangen. Wir sind insgesamt viel konservativer als unsere Vorgänger.

Wir müssen neue Musik machen. Wir müssen vergessene Musik wiederentdecken. Und wir müssen das Standardrepertoire pflegen – im Konzert, aber auch in Aufnahmen. Wir müssen unsere heutige Sicht auf die Meisterwerke dokumentieren. Ich verfolge aufmerksam und dankbar die neuen Aufnahmen von Bruckner oder Beethoven. Jede Generation hat ihre eigene Sicht auf diese Werke. Und die sollte festgehalten werden. Sonst geht ein wichtiger Teil unserer Kultur verloren.

Ich bin gerne Gastdirigent, ich habe mit vielen tollen Orchestern und Musikern zusammengearbeitet, die mich sehr inspiriert haben. Und Menschen und Kulturen auf verschiedenen Kontinenten kennenzulernen ist ein Privileg meines Berufs. Aber ich empfinde es als eine wichtige Aufgabe, mich als eine Art Hermes für die polnische Musik einzusetzen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es zahlreiche bedeutende Werke und Komponisten gibt, die die Welt noch nicht entdeckt hat. Komponisten wie Scharwenka oder Panufnik sollten viel bekannter sein in der Welt. Und die einzigen, die sich für sie einsetzen können, sind wir polnischen Dirigenten und Orchester. Weil wir diese Musik kennen und weil sie uns am Herzen liegt.“

Aufgezeichnet von Arnt Cobbers

Erschienen in Klassik-Winter 2024