Die Geigerin Liv Migdal und ihr neues Album „Beyond Horizons“

Auf ihrem neuen Album blickt Liv Migdal – zusammen mit dem Pianisten Mario Häring – hinter den Horizont. Oder eher: hinter diverse Horizonte. Für Beyond Horizons hat die 1988 in Herne geborene Geigerin drei Komponistinnen und Komponisten ausgewählt, die die Ferne suchten, um sich schließlich in ihrem ureigenen Stil wiederzufinden. Alle drei studierten am Leipziger Konservatorium. Alle drei waren freundschaftlich untereinander verbunden und tauschten sich aus. Alle drei äußerten sich kritisch zu ihren Lehrern und den Inhalten, die ihr Studium in Leipzig bot. Sie alle fanden über die Volksmusik ihres jeweiligen Heimatlandes zu sich selbst: der Älteste, Edvard Grieg, in Norwegen, Amanda Maier in Schweden, Ethel Smyth in Großbritannien.
„Ich habe in der Coronazeit begonnen, offen zu diesem ‚Leipziger Kreis‘ zu recherchieren“, erklärt Liv Migdal. „Amanda Maier hatte eine spannende Lebensgeschichte. Sie war eine sehr bekannte Geigenvirtuosin, wurde auch für ihre Kompositionen geschätzt, bis sie Julius Röntgen, den Sohn ihres Leipziger Lehrers, heiratete.“ Danach zog sich die talentierte Schwedin, der Moral der Zeit folgend, aus der Musik zurück. Amanda Röntgen-Maier gab nur noch Hauskonzerte, bei denen Größen wie Edvard Grieg und Johannes Brahms zu Gast waren. „Sie verschwand sozusagen aus der Musikgeschichte. Dabei sind ihre sechs Stücke für Violine und Klavier voller Esprit“, schwärmt Migdal. „Das letzte Stück ist ein sogenannter Springdans im Dreivierteltakt. Die Spielanweisung lautet: ‚Frisch, schwedisch‘. Wer einmal in Schweden war, hat beim Spingdans sofort ein Bild im Kopf: eine Wiese mit Blumen und Kinder, die tanzen, spielen, singen, einfach fröhlich sind.“
Ein ähnlich typisches Bild, wenn auch surreal überhöht, präsentiert das Cover von Beyond Horizons: ein Kornfeld unter einem intensiv blauen Himmel mit dramatisch aufziehenden weißen Wolken, am linken Bildrand Liv Migdal in einem langen roten Kleid, das im Wind weht. Die Geigerin scheint durch das Feld zu schweben. Was nach einem aufwendigen, minutiös geplanten Fotoshooting aussieht, stellt sich als purer Zufall heraus. „Ich war in Südschweden mit einem befreundeten Musiker unterwegs. Fotografie betreibt er nur als Hobby. Wir sind von unserem Sommerhaus zur nahegelegenen Stadt gefahren. Dann sahen wir diesen fantastischen Himmel und stiegen spontan aus. Ich hatte wie immer meine Geige dabei. Ich glaube, die Aufnahme brauchte nur fünf Minuten. Diese Weite, diese Dramatik, dieses unglaubliche Blau! Das findet man nur hier.“
Voller Farben und perfekt in Szene gesetzt ist auch Ethel Smyths Violinsonate a-Moll op. 7. Im Gegensatz zu Amanda Maier war der temperamentvollen Britin ein langes Leben vergönnt – das mit künstlerischen wie persönlichen Kämpfen gegen viktorianische Zwänge, Upperclass-Chauvinismus und musikalische Diskreditierung durchzogen war. Als bekennend lesbische Frau sowieso in der Schusslinie, setzte sich Ethel Smyth gegen den Willen ihres Vaters durch, trat sogar in den Hungerstreik, studierte ab 1877 in Leipzig und wurde zu einem der zentralen Köpfe der Suffragettenbewegung. In ihrer groß angelegten viersätzigen Violinsonate, 1887 im Gewandhaus uraufgeführt, vermissten die Kritiker „weiblichen Charme“. „Was für eine dumme Zuschreibung!“, echauffiert sich Liv Migdal. „Eine ähnliche Erfahrung musste ich auch einmal machen. In einer Rezension hieß es, ich hätte ‚männlich zupackend‘ gespielt. Das war wohl als Kompliment gedacht. Ich fand es jedoch total fehl am Platze.“
Zum Glück hat Liv Migdal erkannt, wie man tatsächlich hinter vermeintlich unverrückbare Horizonte blicken kann. Ihr Album ist mit Intelligenz zusammengestellt und voller Hingabe gespielt.
Helge Birkelbach
Erschienen im Klassik-Herbst 2025

Beyond Horizons
Werke von Edvard Grieg, Amanda Maierm und Ethel Smyth;
Liv Migdal, Mario Häring
Erscheint am 5. September beim Label Hänssler Classic