Ein vergessener Großer

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Marie-Luise Bodendorff will Niels Wilhelm Gade wieder ins Bewusstsein rücken

Erst kam die Liebe zur Stadt, dann die zur Musik. Als Süddeutsche, geboren in Augsburg und aufgewachsen in Pforzheim, verband sie mit Dänemark allenfalls Urlaub. Dass man da auch studieren könne, sei ihr nie in den Sinn gekommen, sagt Marie-Luise Bodendorff lachend. Das tat sie zunächst in Karlsruhe, bei Olga Rissin-Morenova, dann in Hannover beim berühmten Vladimir Krainev, danach bei Christopher Oakden. Als kurz vor ihrem Examen Studenten gesucht wurden für einen Probeunterricht bei Bewerbern auf eine freie Professur, meldete sie sich und erlebte eine Stunde, die ihr Leben veränderte. „Irgendwas hat in mir Klick gemacht. Ich war es so gewohnt, in Regeln zu denken, stilistisch und technisch, und plötzlich war es, als würden mir die Scheuklappen weggenommen und mir ein freier Zugang zu Prokofjews vierter Sonate eröffnet, die ich damals spielte. Ich war nach dieser Stunde wie in Trance.“ Der Kandidat bekam die Professur nicht, aber Marie-Luise Bodendorff nahm sofort Kontakt auf zu jenem Niklas Sivelöv, der in Kopenhagen unterrichtete. Sie entschied sich, bei ihm noch ein Solisten-Studium dranzuhängen, reiste in die dänische Hauptstadt und wusste sofort: Hier will ich leben. Sie bestand die Aufnahmeprüfung, in einem Saal, vor dessen Türen übrigens eine Statue des Hochschulgründers Niels Gade steht. „Als ich später meinen Lehrauftrag hatte, habe ich immer gesagt, das ist mein Boss. Aber damals war ich noch sehr auf Rachmaninow und Liszt fixiert. Dann habe ich den fantastischen Friedrich Kuhlau entdeckt und zwei CDs mit seiner Musik aufgenommen. Aber Gade ist auch in Dänemark nicht mehr sehr präsent.“

Foto: marie-luise-bodendorff.de

Gades Musik entdeckte Marie-Luise Bodendorff kurioserweise in Pforzheim, wo sie seit letztem Jahr wieder wohnt. „Jemand hatte mir die Sonate empfohlen, und ich hab sie mir auf Youtube angehört, gespielt von Leslie Howard. Es war ein Moment wie damals beim Unterricht mit Sivelöv. Ich dachte nur: Das Stück muss ich lernen! Unbedingt!“ Das tat sie dann auch so schnell, dass sie Gades e-Moll-Sonate bereits kurz darauf in einem Konzert in Halle/Saale spielte, nur wenige Kilometer von Leipzig entfernt, wo Gade in den 1840er-Jahren erst bei Mendelssohn studierte und ihm dann kurzzeitig folgte als Leiter der Gewandhauskonzerte – ehe er in seiner Heimatstadt Kopenhagen zur zentralen Figur des dänischen Musiklebens aufstieg.

„Die Sonate wollte ich dann unbedingt auch aufnehmen, und zuerst wollte ich sie koppeln mit Liszt, dem Gade sie gewidmet hat. Doch Annette Schumacher vom Label Ars riet mir, stattdessen weitere Stücke von Gade aufzunehmen. Ich habe ihr vertraut und begonnen zu recherchieren. Und obwohl ich lieber die Riesenbrocken spiele als Miniaturen, habe ich mich sehr schnell mit den Aquarellen angefreundet, die übrigens, wie auch die Sonate, in den Konzerten beim Publikum sehr gut ankommen.“ Den insgesamt fünfzehn „kleinen Tonbildern“, wie die Aquarellen (mit n!) im Untertitel heißen, gesellte sie noch weitere Stücke aus dem insgesamt nicht sehr großen Klavieroeuvre Niels Gades hinzu. „Ihm haftet ja das Klischee an, seine Musik sei zu freundlich, konfliktfrei. Die Aquarellen sind in der Tat sehr entspannt, aber diese anderen Klavierwerke und auch die Sonate sind extrem virtuos und zeigen eine andere, dramatische Seite. Er muss ein sehr virtuoser Pianist gewesen sein. Und nicht nur in seinen großen Werken, sondern auch in der Klaviermusik ist er für mich auf einer Höhe mit Mendelssohn und Schumann.“

Selbst in Dänemark ist Gade fast in Vergessenheit geraten. „Das ist sehr traurig. Carl Nielsen hat ihn als Nationalkomponist komplett verdrängt“, sagt Marie-Luise Bodendorff, die nach fast 13 Jahren Kopenhagen wieder verlassen hat und nun in Karlsruhe unterrichtet, wo ihre Pianistenlaufbahn 1993 als Jungstudentin begann. „Kopenhagen ist teuer, und das Leben als Freiberuflerin ist nicht so leicht. Mit der festen Stelle hier kann ich mich stärker auf meine eigenen Projekte konzentrieren und muss keine Gigs mehr annehmen, um die Miete zusammenzubekommen. Und vielleicht war auch die Zeit reif. Ich vermisse Kopenhagen, aber ich merke doch, hier sind meine Wurzeln.“

Von Pforzheim aus will sie nun hierzulande eine Lanze brechen für die skandinavischen Komponisten. Niels Gade, Friedrich Kuhlau, den Schweden Wilhelm Stenhammar und natürlich Edvard Grieg hat sie zu einem Programm zusammengebunden, und die Resonanz der Veranstalter sei gut, erzählt Marie-Luise Bodendorff gut gelaunt im Zoom-Meeting aus ihrem Unterrichtsraum in der Karlsruher Hochschule. Ihren Studenten wird sie die Musik Niels Gades jedenfalls auch sehr ans Herz legen.

Arnt Cobbers

Erschienen im Klassik-Herbst 2025

Niels Wilhelm Gade
Ausgewählte Klavierwerke

Marie-Luise Bodendorff

erschienen beim Label Ars Produktion