Carsten Bock ediert Klussmann. Über Freud und Leid eines Musikeditors
Der Hamburger Carsten Bock (Bild rechts) ist studierter Kontrabassist und Musikwissenschaftler, promoviert hat er über Alban Bergs Lyrische Suite. Mit Unterstützung der Funk Stiftung ediert er gerade Werke des Hamburger Komponisten Ernst Gernot Klussmann. Die Ouvertüre op. 44 und das zweite Cellokonzert op. 45 sind bereits beim Laurentius-Verlag erschienen, drei Kammermusikwerke bereitet er für eine CD-Einspielung vor.
Herr Bock, wer ist Ernst Gernot Klussmann?
Er ist 1901 in (Hamburg-)Bergedorf geboren, hat bei Joseph Haas in München studiert, war Kompositionsprofessor in Köln und erhielt 1942 den Ruf, in Hamburg das Vogtsche Konservatorium in eine Musikhochschule umzuwandeln. Dazu kam es nicht mehr, weil Klussmann, wie alle Professoren, 1945 entlassen wurde. Er war 1933 in die NSDAP eingetreten und wurde in einem zweiten Verfahren 1948 als Mitläufer eingestuft. Währenddessen hatte die Stadt Hamburg aber schon Philipp Jarnach als Gründungspräsidenten der Hochschule berufen. Klussmann übernahm wieder eine Kompositionsklasse und war zeitweilig Vizepräsident der Hochschule. 1974 ist er gestorben.
Warum kennt man seine Werke nicht mehr?
Er war ab seinem op. 1, einem Klavierquintett, relativ bekannt und ist viel gespielt worden. Das änderte sich mit dem Kriegsende. Durch die Entlassung fiel er in ein musikalisches Loch und entdeckte dann die Zwölftonmusik für seinen Neuanfang. Aber ästhetisch unter einer ganz anderen Prämisse als die Schönberg-Schule: Klussmann war Kontrapunktiker, sein musikalischer Duktus blieb spätromantisch, eingekleidet in einen dodekaphonen Tonsatz. Und das zu einer Zeit, als die Darmstädter Schule ästhetisch schon einen völlig anderen Weg eingeschlagen hatte. Er fand keinen Anschluss mehr, und so sind fast alle Werke, die er nach dem Krieg geschrieben hat, nicht aufgeführt und nicht gedruckt worden. – Er hat eine Oper nach Hebbel geschrieben, Rhodope, und daraus seine sechste Sinfonie entwickelt, die vom NDR-Sinfonieorchester im Funk aufgeführt wurde. Dazu hat Klussmann alle Intendanten und Kollegen von früher eingeladen. Alle haben die Musik gelobt, aber niemand wollte die Sinfonie oder die Oper aufführen. Das hat ihn desillusioniert, danach hat er nur noch für die Schublade komponiert. Unter anderem fünf Sinfonien und vier Opern. Er war ein Vollblutmusiker, er hat ein Stück beendet und das nächste begonnen – in einem sehr akkuraten Schriftbild, das kann man wunderbar lesen. Und wenn es vollendet war, hat er drunter geschrieben: Satz beendet 5.9.64, 23.05 Uhr.
Dann müssen Sie doch nur noch die Noten aus der Handschrift ins Computerprogramm übertragen – und das war‘s.
Im Prinzip schon, aber selbst bei Klussmann gibt es Fehler. Nicht unbedingt bei den Tonhöhen. Aber bei Artikulationszeichen oder wieweit die Bögen gespannt sind, da schludern alle Komponisten. Wenn Bögen 20 Mal eine bestimmte Form haben und einmal nicht, dann verbessere ich das stillschweigend. Wenn der ganze Bläsersatz ein Forte-Zeichen hat und nur die Trompete nicht, dann muss ich überlegen: War das Absicht oder nicht? In einer praktischen Ausgabe würde ich das Zeichen, das ich hinzufüge, in eine eckige Klammer setzen, um zu zeigen, das ist nicht original vom Komponisten. In einer wissenschaftlichen Edition muss man sich die Arbeit machen, ein Lesartenverzeichnis zu erstellen – und generell sehr genau dokumentieren, was man tut.
Was ist, wenn ein Vorzeichen fehlt und nicht klar ist, hat er das vergessen oder wollte er gerade diesen ungewöhnlichen Effekt?
Da versucht man erst einmal Parallelstellen zu finden. Und natürlich schaut man immer in die weiteren Quellen. Vom Cellokonzert gibt es die Partitur, ein Particell und Einzelstimmen, obwohl ich von keiner Aufführung weiß.
Und wenn die drei Quellen sich unterscheiden?
Dann muss man versuchen, sich in die Musik so weit hineinzulesen, dass man zu einem Ergebnis kommt, das man begründen kann. Das ist bei einem harmonischen Verlauf, der darauf hindeutet, dass z.B. das f ein fis als Leitton sein muss, einfacher als bei der Zwölftontechnik. Da versuche ich die Reihentechnik nachzuvollziehen. Gerade bei schwer lesbaren Handschriften kann es passieren, dass eine Stelle bei dem einen Editor etwas anders klingt als beim zweiten. Die Verantwortung des Herausgebers ist groß.
Was man im Konzert hört, ist also nicht zum Beispiel purer Beethoven?
Der Herausgeber hat immer seinen Anteil daran. Zumal man im 19. Jahrhundert noch anders an die Sache herangegangen ist. Da hat der Editor gesagt: Einen Bindebogen fände ich hier schön, und hat ihn eingesetzt. Im 20. Jahrhundert hat man dann versucht, den Text des Komponisten wieder herauszuschälen, und hat sich die Autografen angeschaut. Da gab es die Bewegung zurück zu den Quellen.
Sind Sie auch für das Notenbild verantwortlich?
Die Darstellung der Partitur, der Zeilenabstand, wie viele Systeme, wo blättert man – das ist alles meine Entscheidung.
Erkunden Sie auch das Umfeld der Werke in Briefen, Notizen usw.?
Bei Klussmann war es ganz wichtig, die Historie in der NS-Zeit aufzuarbeiten. Im Hamburger Staatsarchiv liegt sein Nachlass, und da habe ich versucht herauszufinden, was er politisch gedacht hat. Er scheint ein unpolitischer Mensch gewesen zu sein, der für seine Noten gelebt hat. Es gibt eine Grundtendenz an Obrigkeitshörigkeit, könnte man sagen. Wenn wir einen Krieg führen müssen, dann müssen wir eben einen Krieg führen, schreibt er in einem Brief. Dann aber auch: Ob der Russlandfeldzug so eine gute Idee war? Und immer wieder: Darüber reden wir lieber mal persönlich. Und man kann sehen: In Köln war die Musikhochschule NS-lastig, und Klussmann wurde unter Druck gesetzt: Wenn du was werden willst, trittst du in die Partei ein. Klussmann hatte Familie – das könnte sein Verhalten erklären. Das als erstes abzuklären war mir wichtig, bevor ich mich überhaupt näher mit ihm beschäftige.
Haben Sie auch einen Begleittext geschrieben?
Ja, relativ knapp gehalten. Zur Vita, zum Werk, zu den Quellen und zur Rezeption.
Haben Sie die Werke schon hören können?
Leider noch nicht, großbesetzte Stücke haben es schwer. Deshalb wenden wir uns jetzt der Kammermusik zu. Aber im Moment haben wir ein rechtliches Problem. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für einen Editor. Klussmanns Musik ist noch nicht gemeinfrei. Im Nachlass gibt es eine Vollmacht, in der Klussmanns Sohn die Rechte einem Schüler Klussmanns, Norbert Linke, und dem jeweiligen Präsidenten der Musikhochschule Hamburg überträgt. Norbert Linke hat sofort gesagt: Wunderbar, Hauptsache, die Werke kommen wieder in die Welt. Nun ist Linke vor zwei Jahren gestorben. Und die Musikhochschule sagt: Wir wissen ja nicht, ob der Sohn nicht inzwischen etwas anderes verfügt hat. Wir können keinen Vertrag unterschreiben. Die Vollmacht reicht ihnen nicht. Also habe ich versucht, den Sohn zu kontaktieren, der in den 50er-Jahren in die USA ausgewandert ist – und bekam nach langer Zeit eine Mail von Klussmanns Enkel, der sich inzwischen um die Rechte kümmert. Aber er ist wohl viel unterwegs, jedenfalls hat er die versprochene Genehmigung noch nicht geschickt. Seit einem Jahr liegt op. 1 fertig in der Schublade und kann nicht gedruckt werden. Zwei weitere Werke sind fast fertig ediert – in der Hoffnung, dass wir noch die Genehmigung bekommen.
Sollte Klussmanns Musik gehört werden?
Ja. Auch wegen der eigenwilligen Art, wie er die Zwölftontechnik rezipiert. Man hört immer, dass er ein großer Mahler-Verehrer war. Er hat oft von ihm geschwärmt. Das ist eine interessante Kombination. Aber es ist auch wichtig, den Stand des Komponierens zu seiner Zeit darzustellen. Wenn man über die Musik der NS-Zeit diskutieren will, muss das Material einfach bereitstehen.
Aber macht es nicht doch mehr Freude, 300 Jahre alte Musik in einer kuriosen Handschrift zu edieren, wo Sie wirklich kreativ werden müssen?
Es ist immer interessant, wenn man auf ein Problem stößt. Ich habe mal ein Streichquintett von Félicien David ediert, da gibt es nur die Stimmen aus dem 19. Jahrhundert. Und die zweite Geige hat fünf Takte weniger als die erste. Da war der Notenstecher wohl nicht sehr konzentriert bei der Arbeit, und vermutlich wurde nie aus den Noten gespielt. Da muss man dann puzzeln, das macht Spaß. Aber neuere Musik herauszugeben, die noch nie jemand gehört hat, das ist auch sehr interessant und wichtig.
Das Interview führte Arnt Cobbers.
Erschienen im Klassik-Winter 2022