Passionsprojekt

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Alexander Grychtolik hat ein Bach-Fragment rekonstruiert

Der Cembalist, Dirigent und gebürtige Berliner Alexander Grychtolik hat bereits Bachs Köthener Trauermusik und die Schäferkantate rekonstruiert. Am 1. April stellte er nun in der Alten Oper Frankfurt, mit einer hochkarätigen Besetzung, das Passionsoratorium BWV Anh. 169 vor.

Foto: Giodo Werner

Herr Grychtolik, es gibt unfassbar viele Werke von Bach. Warum setzen Sie noch ein neues in die Welt?
Es gibt das Kernrepertoire, das häufig gespielt wird, und das Randrepertoire, das man eher selten hört. Die Passionen sind für die Musiker fast zum Routinegeschäft geworden. Dieses neue Werk hingegen bietet eine ganz andere Passions-Ästhetik, die man bei Bach so nicht kennt. Es wird nicht der wörtliche Bibeltext gesungen, sondern eine freie Dichtung von Picander, der die menschliche Anteilnahme am Leiden Jesu in den Mittelpunkt rückt. Es ist also eine Passionskantate.

Von der nur Fragmente überliefert sind?
Meine These ist, dass es sich um ein aufgegebenes Passionsprojekt aus dem Jahr 1725 handelt. Es gibt Bachs Handschrift von der vierten Fassung der Johannes-Passion, die plötzlich abbricht, und die verbindet man mit einem Bericht von 1739, als ein Abgesandter der Stadt zu Bach kam und sagte, die geplante Passion dürfe nicht aufgeführt werden. Ich stelle mir vor, dass es bei diesem Passionsoratorium ähnlich war. Karfreitag war alles in der Kirche, was in Leipzig Rang und Namen hatte. Bach war noch recht neu als Kantor, er wollte ganz sicher sein Können demonstrieren. Vorher wurde sechs Wochen keine Musik gespielt, er hatte also genug Zeit zum Komponieren. Und trotzdem wurde zum zweiten Mal hintereinander die Johannes-Passion aufgeführt. Diese zweite Fassung wird schon länger als „Notlösung“ diskutiert. Da muss etwas passiert sein, und zwar kurzfristig. Denn man weiß, dass Bach sehr schnell komponierte. Er arbeitete zu jener Zeit nachweislich mit Picander zusammen, und dessen erstes Passionslibretto fiel anscheinend völlig aus dem Rahmen.

So sehr, dass es verboten werden musste?
Uns heute kommt die kirchliche Textzensur fremd vor, aber die Bildhaftigkeit wurde damals in diesem pietistischen Umfeld sehr kritisch gesehen. In den verschiedenen Fassungen der Johannes-Passion wurden anschauliche Formulierungen zum Teil stärker abgemildert. Die Kirchentexte durften nicht zu weltlich, zu opernhaft wirken.

Wie haben Sie die Musik gefunden?
Es gibt im Passionslibretto zwei Stellen, die perfekt zu zwei Sätzen aus der Matthäus-Passion passen. Bach hat oft Musik mit neuem Text unterlegt und wiederverwendet, das nennt man Parodie. Hier sind es zum Teil nur wenige Worte, die anders sind. Das kann kein Zufall sein. Und es gibt eine Textstelle, zu der ein Satz aus Bachs A-Dur-Messe passt. Von insgesamt bis zu drei Arien und den Chorsätzen des Passionsoratoriums gibt es Spuren in erhaltenen Bach-Werken. Der Rest ist verschollen oder nie geschrieben worden. Sechs Arien habe ich anderen Bach-Werken entlehnt und zum Teil etwas umgearbeitet, damit sie vom Affekt und von der Symbolik her passen. Und die kurzen Rezitative habe ich neu komponiert. Allerdings glaube ich, dass Picander das Libretto nicht vollständig veröffentlicht hat. Es gibt nur zwei Choräle, das ist zu wenig für eine Passion. Drucken war teuer, und bei anderen Veröffentlichungen hat Picander seine Dichtungen manchmal gekürzt oder Textabschnitte, die nicht von ihm stammen, gestrichen. Allein schon deshalb ist es unmöglich, das Passionsoratorium vollständig zu rekonstruieren.

Warum findet die Uraufführung in der Alten Oper Frankfurt statt?
Eigentlich wollten wir das Passionsoratorium erst einmal aufnehmen, denn die Veranstalter möchten sich in der Regel ein Bild machen, bevor man eingeladen wird. Aber nun kamen schon erste Anfragen, also führen wir die Passion am 1. April bei den Frankfurter Bachkonzerten auf und dann am 5. August als Abschlusskonzert beim Festival Europäische Kirchenmusik in Schwäbisch Gmünd, wo auch die CD-Aufnahme stattfinden wird. Und fürs nächste Jahr sind wir schon nach Tokio eingeladen.

Das Gespräch führte Arnt Cobbers.

Erschienen im Klassik-Frühling 2023