Besonderes Gespür für die Welt

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Die Pianistin Zlata Chochieva über Alexander Skrjabin

Frau Chochieva, die Musikwelt orientiert sich oft – zu oft – an runden Geburtstagen. Alexander Skrjabins 150. Geburtstag am 6. Januar ist dagegen fast unbemerkt vorbeigegangen! Wie kann das sein?

Zu seinen Lebzeiten war er in Russland, aber auch im Ausland viel prominenter als zum Beispiel Sergej Rachmaninow. Heutzutage steht Skrjabin weitgehend in Rachmaninows Schatten, auch in Russland.

Skrjabins Musik gilt als schwierig.

Dabei sollten wir genau das an Skrjabin schätzen. Er ist alles, nur nicht banal. Seine Musik ist hochkomplex, intensiv, emotional. Aber zugleich sehr klar. Er stand den Romantikern wie Chopin und Schumann nahe, aber ich finde es viel interessanter, seine Verbindung zu den Komponisten der Wiener Klassik zu zeigen. Skrjabin mochte es nicht, wenn seine Musik hart, streng und schwer gespielt wurde. Sie sollte „fliegen“. Und Struktur war ihm sehr wichtig. Beim Hören einiger seiner späteren Werke nimmt man zuerst die dichte Textur, die harmonische Komplexität wahr, aber beim Blick in die Noten sieht man, wie mathematisch seine Musik konstruiert, wie gut sie organisiert ist. Wie bei den Wiener Klassikern. Er sagte sogar: Die Form sollte so klar sein wie Kristall. Mozart und Skrjabin, beide verbinden schematische Strenge mit überragender Intuition.

Foto: Uwe Arens

Skrjabin gilt als Esoteriker, als Mystiker. Kann man seine Musik genießen, ohne selbst Mystiker zu sein?

Man muss frei sein, um Skrjabin zu verstehen. Frei von Dogmen und Stereotypen. Seine Welt ist kompliziert, aber ich finde sie auch sehr menschlich – und sehr schön. Ich kann nur meine eigene Erfahrung teilen: Skrjabin zu spielen macht mich glücklich. Aber nicht, weil die Musik fröhlich oder positiv wäre. Sondern weil sie mich die Welt verstehen lässt. Ich denke, wenn man sich offen seiner Musik nähert, erschließt sie sich leichter. Sie ist genial komponiert – und weil sie so in sich schlüssig ist, übrigens auch als Interpret leicht zu lernen. Wenn man den Mut aufbringt, sich auf Skrjabin einzulassen, dann eröffnet sich eine phantastische Welt. Seine zehnte Sonate nannte Skrjabin „Das Insekt“. Und das passt. Er sagte: Insekten sind die Küsse der Sonne. Das klingt schräg. Aber das ist Symbolismus, der hat ihn sehr beschäftigt. Er hat viel mit Wörtern gespielt, hat sich von Texten inspirieren lassen. Seine Musik ist sehr rhetorisch – wie die des 18. Jahrhunderts.

Was würden Sie als Einstieg empfehlen?

Es gibt natürlich „leichtere“ und „schwierigere“ Werke. Die späten Sonaten gelten als schwieriger, aber ich denke, selbst wenn man die Nr. 10 als erstes Stück von ihm hört, versteht man die Botschaft und wird gepackt. Ich sehe sie nicht als „Aufgabe“, auf die man sich mit den früheren Sonaten oder den Préludes vorbereiten müsste. Deshalb spielen wir die Werke beim Festival auch nicht chronologisch. Skrjabin hat viele Gesichter, aber man soll sein Werk als Einheit sehen.

Wie frei sind Sie beim Spielen? Es gibt ja Skrjabins eigene Aufnahmen.

Ich bin dankbar, dass wir sie haben. Eine Schwierigkeit beim Spielen von Skrjabin ist der Umgang mit der Zeit. Man darf nicht zu schematisch spielen – aber auch nicht zu frei. Das hat er selbst gefordert. Deshalb kann Skrjabins Musik ganz unterschiedlich klingen je nach Interpret. Wenn man zu flexibel spielt, wird die Musik unverständlich und konfus. Spielt man sie zu schematisch, geht auch viel verloren. – Und man darf sie nicht zu grob spielen, damit die verschiedenen Schichten und die Polyphonie der Linien erhalten bleiben. Seine Gedankenwelt ist so hell. Er war ein Denker, er wollte die Welt verstehen und hat sich deshalb mit den verschiedensten Aspekten unseres Daseins beschäftigt. Die meisten Komponisten kreisten um sich selbst und haben ihre eigenen Erfahrungen verarbeitet. Skrjabin ging es um kosmische Fragen. Und er war hochsensibel. Skrjabin wurde am orthodoxen Heiligen Abend geboren und starb kurz nach Ostern. Er wohnte in Moskau und zahlte seine Miete immer fürs ganze Jahr. 1915, da war er 43 und gesund, sagte er seinen Vermietern: Ich zahle nur bis Mai. Sie fragten: Warum? Und er sagte: Ich habe das Gefühl, das wäre richtig. Und wirklich ist er im April gestorben. Er hatte große Angst vor Infektionen und trug immer Handschuhe – er starb an einer Blutvergiftung. Das war ein Unfall. Aber er hatte offensichtlich etwas geahnt. Es geht hier nicht um Mystik, sondern um eine große Sensibilität. Vermutlich konnte er Dinge wahrnehmen, die wir nicht spüren. Er hatte auch synästhetische Fähigkeiten, er assoziierte Noten und Tonarten mit Farben. Das kann auch ein Fluch sein. Aber Skrjabin konnte das produktiv in Musik umsetzen.

Ist seine Musik zu spielen die reine Freude?

Es ist eine große Freude – aber auch nicht leicht. Dabei ist es nicht bewusst virtuos geschrieben, Skrjabin war als Pianist kein Athlet. Aber er wurde gerühmt für seinen Umgang mit den Pedalen, schon im Studium konnte niemand anders solche Farben erzeugen durch das Mischen der Harmonien

mit dem Pedal. Deshalb muss man als Interpret sehr fein mit dem Pedal umgehen. Und: Seine Musik ist oft sehr dicht. Man braucht all diese Noten, und doch muss die Polyphonie klar bleiben. Jede Linie, jede Schicht muss ihre eigene Farbe bekommen – und das ist sehr schwer. Es passiert leicht, dass man zu schwer oder zu laut spielt. Das ist vielleicht das Wichtigste und die größte Schwierigkeit: die Dichte mit der nötigen Leichtigkeit zu verbinden. Deshalb ist es meiner Meinung nach hilfreich, Skrjabins Musik durch das Prisma von Mozarts Klangwelt zu hören.

Das Interview führte Arnt Cobbers.

Erschienen im Klassik-Frühling 2022

Chiaroscuro

Skrjabin: Sonaten Nr. 3 u. 10, Préludes op. 15; Mozart: Variationen

Zlata Chochieva, Klavier

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