„Ich liebe Dissonanzen“

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Der Pianist Anton Gerzenberg über seine berühmte Mutter, seine Faszination für die Neue Musik und die Folgen des Wettbewerbsgewinns

Foto: Andrej Grilc

Beim Berliner Klavierfestival im Konzerthaus am Gendarmenmarkt ist am 15. Mai 2023 Anton Gerzenberg zu Gast. Der gebürtige Hamburger, Gewinner des Géza-Anda-Wettbewerbs in Zürich 2021, wird sein Berliner Solo-Debüt geben mit Schumann, Schubert, Liszt und Wagner. Im Februar sprang der 26-Jährige kurzfristig für ein Konzert mit dem Konzerthausorchester und Nico and the Navigators ein, Arnt Cobbers traf ihn in einer Probenpause in der Kantine des Konzerthauses.

Herr Gerzenberg, die Frage hören Sie sicherlich oft: Wie ist es, Pianist zu sein als Sohn einer großen Pianistin, Lilya Zilberstein?

Nepobaby! (lacht) Das war ja gerade ein großer Diskurs in den sozialen Medien, wer in Hollywood von wem der Sohn ist. Für mich war und ist es eher ein Segen, zumal ich einen anderen Nachnamen habe. Zu Hause gab es immer Musik, wir hatten Instrumente, an die ich aber früh ganz von allein rangegangen bin.

Sie hätten ja auch Trompeter werden können – Ihr Vater ist Trompeter.

Meine Lippen sind zu dick, und dann bin ich auch mal in der ersten Klasse mit dem Mund auf den Tisch gefallen, dann war es sowieso vorbei. Mein Bruder Daniel hatte eine sehr gute Veranlagung, aber er hat sich dann einen Zahn ausgeschlagen. Deshalb sind wir beide Pianisten geworden.

Ist es nicht blöd, dasselbe Instrument zu spielen wie der Bruder? Der ist fünf Jahre älter und war doch, solange Sie Kind waren, immer besser.

Ich hatte einen anderen Ansatz. Ich habe auch Cello gespielt, und als ich damit anfing, habe ich auch begonnen, viel vom Blatt zu spielen. Ich habe mir alle Noten genommen, die ich finden konnte, und wenn da ein Glissando oder ein Tremolo war, habe ich versucht, das zu spielen – so habe ich mir meine Technik angeeignet. Die Stücke, die ich zu der Zeit im Unterricht gespielt habe, waren bei weitem nicht so schwer wie die Stücke, die ich zuhause gelesen und gespielt habe.

Cello war nicht das richtige für Sie?

Ich habe nicht genug geübt. Darunter haben meine Cellolehrer immer gelitten – ich habe nie eine vernünftige Bogentechnik gelernt. Fürs Klavier hab ich viel Zeit investiert.

War Ihre Mutter Ihre Lehrerin?

Nein, wir haben nur die allerersten Schritte am Klavier gemeinsam gemacht, dann kam ich schon ein Jahr später, mit fünf oder sechs, zu einer Lehrerin, Julia Suslin. Meine Mutter war ja auch viel zu Konzerten unterwegs, aber wenn sie zuhause war, hat sie auch mal was gesagt. Von meinem Bruder bekam sie da ordentlich pubertären Gegenwind – er wollte überhaupt nicht, dass sie etwas sagt. Ich hab das eigentlich gerne angenommen – bis zu einem bestimmten Punkt. (lacht)

Gab es überhaupt eine Alternative zum Musikerberuf?

Eine Zeitlang wollte ich Vulkanologe werden. Astrophysik hat mich auch sehr fasziniert. Aber das hat sich nicht weiterentwickelt.

Und wie sind Sie dazu gekommen, mit Ihrem Bruder Duo zu spielen?

Er hat bei Jugend musiziert mit einem Kollegen vierhändig gespielt. Dann wurde der krank, und mein Vater sagte: Dann soll doch Anton spielen, der kann das vom Blatt. Es war eine Mozart-Sonate, das ging sehr gut, auch für meinen Bruder. Und dann hat mein Vater ein bisschen gepusht: Dann sollen sie doch fest zusammen spielen! Wir haben uns also vorbereitet fürs nächste Jugend musiziert – und haben dann abgesahnt beim Bundeswettbewerb. Das entwickelte sich alles ziemlich gut, wie haben einige Konzerte gegeben – und 2015 erstmal Schluss gemacht. Unser letztes Konzert war ein Rezital beim Klavierfestival Ruhr. Mit den Münchner Sinfonikern und Bully Herbig haben wir den Karneval der Tiere gespielt. Dann bin ich mit meiner Mutter nach Wien gegangen, hab da das Gymnasium abgeschlossen und angefangen zu studieren bei Pierre-Laurent Aimard in Köln.

Das heißt, Sie haben kein Abitur, sondern die Matura?

Ja. Meinen Chemie-Leistungskurs hab ich nicht abgeschlossen. Aber ansonsten ging das. Das war in Wien einfacher als in Schleswig-Holstein, da ist das Abitur schwer.

Sie hatten als verhinderter Astrophysiker keinen Physik-Leistungskurs?

Nein, der war nicht zustande gekommen. Musik auch nicht. Deshalb musste ich Chemie nehmen. Das war keine gute Entscheidung. (lacht)

Warum sind Sie dann zu Aimard gegangen?

Ich wollte Neue Musik lernen. Ich versuche so viel möglich, zeitgenössische Musik zu spielen. Wenn wir nur alte Musik spielen, geht es nicht weiter, und dazu zählt auch die Musik des 20. Jahrhunderts. Man muss am Puls der Zeit bleiben. Und wissen, wie man nicht nur die Noten spielt, sondern daraus wirklich Musik erschafft. Die Herangehensweise ist die gleiche wie an Beethoven oder Mozart. Das gilt für die Struktur, aber auch für den Klang. Es gibt auch eine Klangkultur für ein Cluster.

Das klingt nach Pflicht.

Das ist mir wichtig. Aber ich mag auch die Musik. Nicht alles natürlich, aber ich mag auch nicht alle romantische Musik. Ich spiele das, was ich spielen möchte – und versuche meine Begeisterung dem Publikum weiterzugeben. Dass es nicht nur denkt: Ah, interessant. Sondern: Das ist wirklich etwas Besonderes!

Würden Sie am liebsten nur zeitgenössische Musik spielen, wenn Sie davon leben könnten?

Nein, mir ist wichtig, alles zu spielen. Ich liebe die Musik des 20., des 19., des 18. Jahrhunderts. Leider hat Monteverdi im 17. Jahrhundert nichts für Klavier geschrieben. Ich versuche das auch in meinen Programmen zu zeigen. Mein neuestes Programm ist das „diabolische“ Programm: Es beginnt mit dem Geisterschiff von Carl Tausig, dann kommen einige Ligeti-Etüden, darunter L‘escalier du diable, dann Prokofjews Suggestion diabolique, der Mephisto-Walzer von Liszt und in der zweiten Hälfte Rachmaninow und Ligeti gemischt.

Ist es schwerer, aus Neuer Musik „Musik“ zu machen?

Wir lernen das ja nicht von klein auf. Im Unterricht, zumindest in meinem, lag der Fokus auf romantischer Musik, dazu ein bisschen Bach, Polyphonie, Wiener Klassik – Mozart liebe ich. Auch Mozart lernt man nicht wirklich richtig. Die Spontanität, die Improvisation, die es da gibt, das habe ich auch erst später gelernt.

Bei tonaler Musik hat man ein Gefühl, wo es hingehen muss …

Es ist heute nicht mehr so dogmatisch. Ich war gerade in Paris und hab das neue Violinkonzert von Unsuk Chin gehört, da gibt’s eine unglaubliche Passage, wo sie Klarinetten mit Kontrabass-Flageoletts verbindet – in Dur-Akkorden! Und es klingt so phantastisch! Alle haben sich danach gefragt: Wie hat man diesen Klang erzeugt? Eine unglaubliche Stelle, mit Dur-Akkorden!

Aber gibt’s auch tolle Stellen ohne Dur-Akkorde?

Natürlich! Total viele. Es ist diese Freiheit, die mir gefällt. Ich liebe Dissonanzen. Was sich geändert hat, ist, dass die Dissonanz nicht mehr zur Konsonanz wird, sondern Dissonanz bleibt, das ist losgelöst von allen Regeln. Aimard hat das im Unterricht über Stockhausen gesagt: Die große Rebellion liegt darin, dass es heute egal ist, ob der Ton hier oben ist oder da unten. Zuvor hat man für Klavier immer so geschrieben, dass es bequem liegt für den Körper, das es passt. Das ist seit Stockhausen anders. Und das ist sehr spannend – wenn man daran interessiert ist.

Aber nochmal: Bei tonaler Musik kann man die harmonische Entwicklung nachverfolgen …

Aber das ist ja nicht die einzige Möglichkeit, einen Höhepunkt zu erzeugen. Bei Schönberg sind die Phrasierungen noch sehr klar, noch sehr von Brahms oder dem Wiener Walzer inspiriert, Stockhausen ist da viel schwerer zu verstehen. Deshalb ist es so wichtig, dass man lernt: Was ist die Sprache?

Beim Berliner Klavierfestival spielen Sie kein einziges zeitgenössisches Stück.

Aber das Programm mag ich darum nicht weniger. Ich habe versucht, einen Bogen zu schlagen über die romantische Klaviermusik: mit Schubert und Schumann, die verbunden sind durch die Lieder in Bearbeitungen von Franz Liszt, dann folgt die Schubert-Fantasie Der Wanderer, in der ja auch das Lied sehr wichtig ist. Und die Papillons am Anfang sind einfach ein geiles Stück, diese Karnevalsmusik, die Walzer und Tänze. Dann geht weiter mit Liszts Années de pèlerinage, und auf diese Wanderjahre antwortet der Tannhäuser, der ja auch ein Wanderer ist – er zieht aus seiner Stadt hinaus, wandert zum Venusberg, pilgert später nach Rom – und deshalb gut ins Konzept passt.

Dieser Wagner als Abschluss eines Klavierabends ist ungewöhnlich.

Klar, das ist eigentlich eine Ouvertüre, aber sie endet sehr groß. Ich bin ein großer Wagnerianer, überhaupt ein großer Opernliebhaber.

Wir müssen noch kurz auf den Géza-Anda-Wettbewerb zu sprechen kommen, den Sie 2021 gewonnen haben. Ist so etwas immer noch wichtig für eine Karriere?

Das zündet die Karriere. Vorher war ich kein Solist. Ich hatte hier und da Konzerte, aber jetzt habe ich einen richtigen Konzertkalender. Der Géza-Anda-Wettbewerb ist schon etwas Besonderes, weil es Teil der ersten drei Preise ist, dass man danach für drei Jahre von einem Agenten begleitet wird, der einen berät. Das nimmt einem den Druck, selbst einen zu finden. So steigt man ins Konzertleben ein. Ich weiß gar nicht, wie man sonst reinkommen soll. Man kann auch Glück haben als Einspringer, aber auch da muss man schon auf der Liste einer Agentur stehen.

Hat Ihnen Ihr Agent schon geraten, sich aufs „klassische“ Repertoire zu fokussieren? Das wäre karrieretechnisch doch sicherlich leichter.

Ich wäre viel einfacher zu vermarkten, wenn ich sagen würde: In dieser Saison spiele ich diese Beethoven-Sonaten und diese Chopin-Balladen. Chopin-Balladen spiele ich wirklich in der nächsten Saison. Aber als Musiker weiß man ja, was einem am besten steht – das ist wie ein Kleidungsstil. Und fürs Publikum ist es doch auch interessanter, wenn es im Konzert auf eine Reise mitgenommen wird. Aber mit Orchester spiele ich die Klavierkonzerte von Brahms, Liszt, Mendelssohn. Man wird selten für neues Repertoire eingeladen.

In Köln haben Sie ein Ensemble für Neue Musik, ERMA, mitbegründet. Da ist man als Pianist ja ganz anders eingebunden als in den „klassischen“ Ensembles.

Diese Art von Ensembles gab es vorher nicht. Dass man zum Beispiel Flöte, Schlagzeug und Klavier kombiniert, diese Freiheit der Klangmöglichkeiten kam erst mit Schönberg. Das liebe ich.

Spielen Sie auch wieder Duo mit Ihrem Bruder?

Wir spielen wieder mehr zusammen, im Juli zum Beispiel in der Tonhalle Zürich mit dem Zürcher Kammerorchester unter Holliger ein Stück von Veress.

Wird das Konzert beim Berliner Klavierfestival Ihr Solo-Debüt in Berlin?

Ja. Im November haben wir hier im Konzerthaus mit dem Konzerthausorchester ein Stück für sechs Klaviere und Orchester von Georg Friedrich Haas gespielt. Es ist schön, dass ich jetzt hier im Haus auch mein Berliner Solo-Debüt geben kann.

Das Gespräch führte Arnt Cobbers.

Erschienen im Klassik-Frühling 2023